Die folgende Darstellung sowie der Text sind entnommen aus: Ucke, C. (Hg.): Naxos - Alte Reisebeschreibungen, 222 Seiten, München 1989, ISBN 3-923666-10-1. Im Buch illustrieren Stiche und Fotos die Erzählung.

Joseph-Arthur de Gobineau wurde am 14. Juli 1816 in Ville-d'Avray geboren und starb am 13. Oktober 1882 in Turin. 1835 begab er sich nach Paris, wo er sich an diversen Periodika beteiligte und literarisch sehr aktiv war. 1846 heiratete er; aus der Ehe entsprossen zwei Töchter.

Als Tocqueville im Juni 1849 Außenminister Frankreichs wurde, holte er Gobineau in die Regierung. Er bekleidete in der Folge viele diplomatische Posten, u.a. in Deutschland (Hannover und Frankfurt), Persien (Teheran; 1855-1859), Griechenland (Athen; 1864-1868), Brasilien (Rio deJaneiro; 1869). 1877 zog er sich nach Italien zurück, wo er starb.

Während seiner Missionen war er ständig literarisch tätig. In Hannover (1853-1855) entstand sein Werk "L'Essai sur l'inégalité des races humaines", das vielfach mißinterpretiert wurde und einige Argumente für den Rassenfanatismus des Nationalsozialismus beisteuerte. Gobineau beeinflußte auch Nietzsche und Wagner. Seine Werke wurden stets in Deutschland mehr geschätzt als in seinem Heimatland.

Die drei Novellen, die in seinen 1872 herausgegebenen "Reisefrüchten" enthalten sind, entstanden in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. 'Akrivia Phrangopulo' wird häufig als die Meisternovelle des Diplomatendichters gepriesen. Die Handlung spielt im Jahr 1866, denn im Januar dieses Jahres erfolgte der Neuausbruch des Vulkans auf Santorini, auf den Gobineau Bezug nimmt. Der Ort der Handlung auf Naxos wird dem befestigten Pirgos Dellarokka (früher Pirgos Frankópulu; grch. PurgoV tou Fragkopoulou) in Kurunochóri im Mélanestal zugeschrieben. Auch einige der in der Novelle vorkommenden Personen sind historisch zuordenbar oder ähneln zumindest realen Freunden von Gobineau. So weist der Held Norton eine Reihe von Zügen auf, die von Kapitän Lindsay Brine entlehnt wurden, des Kommandanten der Korvette, mit der Gobineau im Jahre 1867 Naxos, Antiparos und Santorin besuchte.

Die erste deutsche Übersetzung von Akrivia Phrangopulo erschien 1899 in der 'Deutschen Zeitschrift' (Der Kynast), in Buchform dann 1907 im Reclam Verlag. Nach meinen Recherchen ist die Novelle seitdem nicht wieder in deutsch publiziert worden.

Die Anmerkungen am Ende stammen in dieser Form vom Übersetzer F. Hahne

C. Ucke


Akrivia Phrangopulo

Die Zykladen gehören zu den Orten auf der Erde, denen man mit vollem Recht das Beiwort verführerisch geben darf. Allerdings können viele von ihnen mit Grund als unfruchtbare Felsen bezeichnet werden; indes im Schoße dieser griechischen Meere, wo die Hand der Götter sie gesät hat, glänzen diese Felsen wie ebensoviele Edelsteine. Das Licht, das sie in einemvöllig dunstlosen Luftkreise umflutet, und die azurnen Wellen, die sie einfassen, machen aus ihnen je nach der Tagesstunde Amethyste, Saphire, Rubinen oder Topase. Die Wirklichkeit ist öde, ärmlich, fast nackt, zweifellos melancholisch, aber diese Nachteile verblassen vor einer Erhabenheit und Anmut ohnegleichen. Die Zykladen erwecken die Vorstellung von sehr vornehmen Damen, die in Reichtum und Eleganz geboren und aufgewachsen sind. Keinerlei Aufwand des ausgesonnensten Luxus ist ihnen fremd geblieben. Aber Unglücksschläge haben sie getroffen, große, ihrer würdige Unglücksschläge; deshalb haben sie sich mit den Trümmern ihres Vermögens von der Welt zurückgezogen; sie machen keine Besuche mehr, sie empfangen niemand; nichts destoweniger sind sie immer noch vornehme Damen, und aus der Vergangenheit bleibt ihnen als höchste Feinheit, die Emporkömmlinge sich nicht geben können, eine bezaubernde Heiterkeit und ein entzückendes Lächeln.

Vor einigen Jahren befand sich eines Morgens, etwas vor Tage, die englische Kriegskorvette Aurora, die von Korfu kam und gehorsam den weisen Vorschriften der Kohle sparenden Admiralität unter Segeln ging, ziemlich in der Mitte des Inselmeeres, von dem hier die Rede ist. Der Kommandant Henry Fitzallan Norton schlief noch auf seinem Lager, als ein Steuermannsgehilfe, vom wachhabenden Offizier abgeschickt, zu ihm trat, um ihn zu wecken.

"Herr Kommandant!" -

Beim Klange dieser wohlbekannten Stimme hatte der Angerufene die Augen geöffnet und antwortete: "Was gibt's?"

"Herr Kommandant, Naxos ist in Sicht!"

"Gut!" erwiderte Norton; und da er noch ziemlich spät in der Offiziersmesse Whist gespielt hatte, drehte er sich auf seinem Bette um, in der besten Absicht, noch einmal einzuschlafen, was ihm jedoch nicht gestattet wurde. Es erhob sich nämlich am Rande des Bettes langsam etwas Schwarzes und Zottiges, das Geräusch eines langgedehnten Gähnens ließ sich vernehmen, und während eine mächtige Zunge sich gegen sein Kinn ausstreckte mit dem offenbaren Wunsche, es unter ihrer rosigen Oberfläche verschwinden zu lassen, sahen ihn zwei kluge Augen, so klug wie Hundeaugen überhaupt sein können, ins Gesicht und schienen ihm sagen zu wollen: "Beim Himmel, wach' doch auf; ich habe genug geschlafen!"

"Nun ja! Wenn es denn sein muß," antwortete der Kommandant, "ich stehe schon auf, Dido, ich stehe auf!"

Und in der Tat, der Kommandant stand auf. Die Dämmerung graute bereits, aber es war noch nicht Tag. Die Kerze, die bald mit ihrem spärlichen Schein die rasche Toilette Henry Nortons beleuchtete, beschien die rings in der Kabine aufgehäuften Gegenstände nur etwa so, daß man sie ahnen, aber keineswegs erkennen konnte. Es kann nichts Unfreundlicheres geben als eine solche Behausung, wenn es auch bei den knauserigen Landratten gang und gäbe ist, sich über den Luxus der Seeschiffe aufzuregen. Handelt es sich um ein französisches Kriegsschiff, so ist das Zimmer auf einen Herrn zugeschnitten, der sich ewig gleich bleibt, wie die Unfehlbarkeit der Verwaltung. Es ist weiß bemalt und mit goldenen Stäbchen verziert, die sich im Übermaß wiederholen, wie in einem Gasthauszimmer; und die Möbel sind rot, wenigstens wenn es nicht einen Vizeadmiral einzurichten gilt. Angesichts dieser bedeutsamen Erwägung wird die Marineverwaltung schwach in ihren Grundsätzen, aber nur um desto sicherer zu triumphieren; dann nämlich wird alles unweigerlich gelb. Die Gesetze der Perser und Meder und die Richtersprüche des Minos können unmöglich bestimmter gewesen sein. Auf dem Tische sind regelmäßig einige Zeitungen aufgestapelt, ferner findet sich eine Marinerangliste, das ist alles; höchstens hat der Offizier, wenn er Familienvater ist, es sich nicht versagen können, die Wände hie und da mit Photographien seiner Lieben zu schmücken. In der englischen Marine hat der persönliche Geschmack mehr Freiheit. Die Kabinen der Kommandanten sind nicht immer mit derselben Farbe bemalt; vielmehr kann der Wunsch des Inhabers darüber entscheiden. Es gibt weniger Zwischenwände und kleine Löcher, auch weniger Türen, die sich vor Verschlägen von vier Fuß Breite schließen, vielmehr lassen Vorhänge Licht und Luft eindringen, und was das Bezeichnendste und Merkwürdigste ist, man sieht dort häufig Gemälde, Kunstgegenstände und vor allem Bücher. In bezug auf die letzteren Dinge war die Wohnung Henry Nortons reich trotz ihrer Kleinheit. Man sah Stiche nach alten italienischen Meistern, ferner zwei oder drei kleine Ölbilder, die in Messina und Malta gekauft waren, und überall, wo man Bücherbretter hatte anbringen können, standen Bände von verschiedenem Format und Umfang: mathematische Abhandlungen, Bücher über Staatswirtschaft, Geschichte, deutsche Philosophie, auch neue Romane; alles das stand in Reih und Glied, drängte sich, häufte sich, kletterte eines übers andre, und sogar auf den Stühlen lag noch etwas herum. Henry Norton war ein leidenschaftlicher Bewunderer Dickens' und Tennysons, was ihn aber durchaus nicht hinderte, aufs gewissenhafteste seinen Beruf auszuüben und ihn genau zu kennen. Dreiunddreißig Jahre alt, mit einem hübschen Gesicht, blond und freundlich, sprach er wenig, dachte aber desto mehr, träumte sogar ziemlich viel und zeigte im ganzen den Charakter, der so häufig unter seinen Landsleuten ist, eine Mischung von praktischem Sinn, romantischer Schwärmerei und Tatkraft. Während er es in seiner Laufbahn schon weit gebracht hatte, denn er war bereits Schiffskommandant, zeigte er merkwürdigerweise wenig Lust, sich in der Welt zu vergnügen. Zum Spleen allerdings war nie die geringste Veranlagung bei ihm bemerkbar geworden.

Als er angekleidet war, stieg er aufs Verdeck und vom Verdeck auf die Kommandobrücke; die vorschriftsmäßige Scheuerung war im besten Gange; das Klatschen der im Schwunge ausgegossenen Wassereimer und das kräftige Schaben der Schrubber verursachte den üblichen Lärm. Norton erwiderte schweigend den Gruß des wachhabenden Offiziers, der in seinen Mantel eingewickelt war wie ein braver Mann, der seine drei Wachstunden überstanden hat, und ließ sein Auge über das Schauspiel wandern, das sich rings um sein Schiff auftat. Die Morgenröte stieg empor und ließ Norton lebhaft die hohe Weisheit der Dichter der Vorzeit bewundern, welche die Eos mit Rosenfingern schauten und schilderten. Überhaupt verführt kein Land der Welt derart zur Vergötterung der Naturerscheinungen wie die Levante. Alles offenbart sich dort mit solcher Klarheit, hebt sich so deutlich ab, entfaltet so viel Leben, umgibt sich mit so viel Reizen, daß man es ganz natürlich findet, sich vorzustellen, daß die Pforten des Tages von einer bezaubernden Jungfrau geöffnet werden und daß das strahlende Tagesgestirn von den ungestümen, feurigen Rossen des schönsten und klügsten der Götter im Triumph durch die himmlischen Gefilde dahingezogen wird. Das Meer lag in tiefster Ruhe. Bläulich wie Singrün, nicht gerunzelt, sondern auf die neckischte Art gekräuselt, um desto besser auf seiner Brust die Strahlenbüschel des jungen Tageslichts aufleuchten zu lassen, das in funkelnden Kaskaden darauf herabrieselte, holte es aus weiter Ferne vom Ende des östlichen Horizonts hervor, was an zarten Abstufungen des Morgenrots noch geblieben war. Es schmückte sich nach Herzenslust, in einem stetig sich erweiternden Kreise, mit einer Fülle von safrangelben oder blaßrosa Blumen, und allmählich wurde der Safran zu Orange, das Rosa durchsetzte sich mit Scharlach, Goldfäden liefen überall hindurch, und eine blendende, warme, siegreiche Helligkeit erweckte die gesamte Natur zum Leben.

Hie und da wurden Inseln sichtbar, die einen näher, die andern ferner. Liebliche Linien, weich und zart, bezeichneten die Umrisse dieser bergigen Eilande. Da lag Paros, hier ihre Schwester Antiparos; etwas weiter weg, in Dampf gehüllt, Santorin; endlich geradeaus begann Naxos, das schöne Naxos1)  nicht mehr allein seine Gesamtansicht, sondern seine Gipfel, Hügel, Täler, Abgründe und Klippen zu zeigen, und man sah die Stadt hervortreten, weiß wie eine Braut.

Es bedurfte jedoch noch einiger Stunden, um sie zu erreichen. Denn der Wind war ausnehmend schwach, und das Schiff kam langsam vorwärts. Inzwischen enthüllten sich die Einzelheiten der Küste mit jedem Augenblicke deutlicher. Man bemerkte die Hafeneinfahrt, die sich zwischen den Felsen hindurchwand und sah zur Rechten jenes unfruchtbare Inselchen2), das freilich so reich ist durch einige Trümmer antiken Mauerwerks, die Reste eines Heraklestempels. Die Häusermasse badete ihren Fuß gleichsam im Wasser und baute sich staffelförmig eine Reihe über der andern auf, wie die Sitze eines Amphitheaters. Über diesen Hütten der Armut erhob sich mehr gemütlich als gewaltig in seiner Wirkung die Ansammlung von Wohnstätten, die man die Zitadelle oder die Burg betitelt, die auch Reste von alten, entweder verfallenen oder zum Bau von neuen Wohnhäusern verwendeten Festungswällen einer solchen noch immer würdig erscheinen lassen, wenngleich sie mit der Zeit etwas anspruchsvoll geworden ist. Der Anblick war erquickend, liebenswürdig und einladend. Die Aurora fuhr fort, langsam sich dem gastlichen Gestade zu nähern, als ein unerwarteter Zwischenfall eintrat, der beinahe dieser Landung das friedliche Gepräge völlig geraubt hätte.

Gerade in dem Augenblick nämlich, als die Korvette die Hafeneinfahrt durchfuhr, kam ein heftiger Windstoß von der offnen See heran und warf sich ihr unvernünftig in die Segel, die bei der bisherigen schwachen Brise lang herabgelassen waren. Das närrisch gemachte Schiff setzte sich in rasche Bewegung, und da es kaum 300 Meter von der felsigen Küste entfernt war, so war es drauf und dran, unfehlbar an dieser zu zerschellen, als der Kommandant in rasender Hast einen Befehl gab. Die gesamte Bemannung sprang aufs Verdeck und vom Verdeck in die Rahen. Das Manöver wurde so eilig ausgeführt, daß Dutzende von Mützen und Hüten davon flogen und das Meer besäten; aber sämtliche Segel bis auf den kleinsten Fetzen waren im Augenblick gerefft, und die Aurora lag plötzlich still, freilich nicht früh genug: ein kleiner Teil ihrer Holzverkleidung schrammte noch den Felsen; nichtsdestoweniger war dies genau genommen kaum eine Havarie zu nennen, wozu jedermann sich beglückwünschte. Als man vollends festgestellt hatte, daß die glücklich vermiedene Gefahr nichts weiter im Gefolge hatte, als eine Art Nötigung, fünf oder höchstens sechs Tage vor Naxos stillzuliegen, um einige Planken wieder einzusetzen, wie denn auch die Maschine mehrerer Ausbesserungen bedurfte, da waren Kommandant und Offiziere, anstatt den Unfall zu beklagen, sehr vergnügt darüber. Es wurde Befehl gegeben, die Anker auszuwerfen. Während man jedoch hiermit noch beschäftigt war, sah man bereits zwei Personen an Bord steigen, die den Kommandanten des Schiffes zu sprechen begehrten.

Die Ankömmlinge trugen beide Röcke, Beinkleider und Westen von schwarzer Farbe, dazu weiße Halsbinden, und hielten den hohen Filzhut in der Hand, der bei allen gebildeten Völkern im Gebrauch ist; aber diese Tracht, die an und für sich wenig bemerkenswert ist, erregte doch Nortons höchstes Erstaunen; denn im vorliegenden Falle gewährte sie den altertümlichsten Anblick, den diese Kleidermode überhaupt bieten kann. Auch der oberflächlichste Beobachter hätte nicht umhin gekonnt, sie spätestens auf das Jahr 1820 anzusetzen. Riesige, ungeglättete Kragen, Ärmel, die an der Schulter breit und faltig, am Handgelenk sehr eng waren, ein kurze Taille, maßlos lange Schöße, Beinkleider à la cosaque3)  und schwarzseidene Westen von ungeheuer weitem Ausschnitt hätten in den Augen Georg Brummels4), wenn er hätte wieder auf die Welt kommen können, um diese Erinnerungen an seine Jugend zu schauen, Tränen der Rührung entlockt. Die umfangreichen, breiten Halsbinden von sechs Zoll Höhe, geziert mit kunstvoll ersonnenen Knoten, von einer Verwickeltheit, die den geschicktesten Segelschiffsmatrosen zur Verzweiflung gebracht hätte, wurden vorteilhaft gekrönt von zwei gesteiften Kragen, die sicherlich fortwährende Reibereien mit den Huträndern haben mußten, wenn der Hut das Haupt der ansehnlichen Besitzer dieser kostbaren Kleidung bedeckte; augenblicklich ruhten freilich die Hüte in den Händen ihrer Herren. Man braucht übrigens diese absonderlichen Bedachungen keineswegs zu bedauern; denn da sie jeder anderthalb Fuß hoch und mit Krempen von beträchtlicher Breite versehen waren, so konnten sie sich wohl wehren, und ihr haariges und stacheliges Äußere gab ihnen ein wildtrotziges Ansehen. Norton stand starr vor Verwunderung über diesen sonderbaren Erscheinungen; er wurde an Helden eines vergangenenZeitalters erinnert und mußte sich zusammennehmen, um seine Aufmerksamkeit auf die Gesichter der beiden Ankömmlinge zu richten. Sie waren höchst ehrenwert und würdevoll. Beide glichen sich in dem Punkte, daß die Haare nach ebenso veraltetem Geschmack geschnitten waren, wie die Röcke. Sie bildeten an den Schläfen schöngeschwungene Schmachtlocken, den zierlichen Lusthäuschen vergleichbar, die großen Bauwerken zur Seite stehen, während riesige graue Haarwülste, die sich mit Würde über dem Scheitel des Hauptes erhoben und die breite Stirne krönten, vielmehr an jene strengen Giebeldächer erinnerten, die der Ehrfurcht der Völker die Gerichtshöfe erster Instanz ankündigen.

Während die Haartracht bei beiden Insulanern die gleiche war, zeigten diese im übrigen große Verschiedenheit. Der eine, der den Vortritt nahm, war klein und etwas stark; sein Gesicht von kräftiger Farbe zeigte ein freundliches und vergnügtes Lächeln. Der andere hingegen, hochaufgeschossen, ausnehmend mager, gelblich von Gesichtsfarbe, schien leidend und trübgestimmt, aber in sein Los ergeben. Norton konnte nicht umhin, ihreZüge äußerst vornehm zu finden; ihre ältlichen Gesichter waren nicht von gewöhnlicher Art, und ihm tauchten Erinnerungen auf an gewisse Charakterköpfe von französischen und italienischen Edelleuten, die er in seiner frühsten Jugend kennen gelernt hatte.

Von diesem Eindruck beherrscht und neugierig zu sehen, inwieweit er richtig sei, bat er seine Besucher, in seine Kabine hinabzusteigen, und erkundigte sich höflich, was sie zu ihm führe. Der dicke, muntre Naxier gab sich als Herr Dimitri de Moncade zu erkennen, Konsularagent Ihrer Majestät der Königin von Großbritannien. Er kam dem Kommandanten seine Dienste anzubieten und stellte seinen Freund und Kollegen Herrn Nicolas Phrangopulo vor, Konsul der Hansastädte. Die Unterhaltung wurde natürlich auf griechisch geführt. Denn einerseits sprach Henry Norton dank einem mehrjährigen Aufenthalt in den Meeren der Levante diese Sprache geläufig, zum andern verstand weder Herr de Moncade noch Herr Phrangopulo das geringste Wort von einer andern Sprache.

Man hat aus dem, was bislang von dem Kommandanten der Aurora erzählt ist, entnehmen können, daß er von Natur wißbegierig war und gern Belehrung suchte. Das Äußere der beiden Personen, die in seiner Kabine saßen, hatte hinlänglich sein Interesse erweckt, und er bemühte sich, etwas mehr über sie zu erfahren, wäre es auch nur, zur Vorbereitung für seine zukünftigen Beobachtungen auf der Insel selbst. Er leitete also die Unterhaltung so, daß er, soweit es nur irgend die Höflichkeit erlaubte, die beiden ausfragte, und seine Bemühungen waren nicht ohne Erfolg. Was er stück- und brockenweise erkundete, war etwa folgendes: Der Herr Konsularagent Ihrer britannischen Majestät verdankte seine Stellung dem Umstande, daß sein Vater und sein Großvater sie ehedem mit Ehren ausgefüllt hatten; natürlich fühlte er sich reichlich belohnt durch den Glanz, der davon auf seine Person zurückstrahlte, und keinerlei unwürdige Erwägungen materiellen Gewinnes waren damit verbunden. Er hatte den Admiral Codrington5)  gekannt und bewahrte treulich die Erinnerung an ein Frühstück, daß er einst an Bord des Kriegsschiffs, das den großen Seemann trug, mitgemacht hatte. Das war kurz vor der Schlacht bei Navarin gewesen. Einmal alle sieben oder acht Jahre fuhr ein englisches Kriegsschiff an Naxos vorüber und erfreute ihm Auge und Herz. Im Jahre 1838 hatte eine Reise nach Athen ihn in die Lage gesetzt, eine Menge interessanter Dinge zu erfahren, von denen er bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Er erkundigte sich bei Henry Norton nach Seiner Gnaden, dem Herzog von Wellington, und zeigte sich überaus schmerzlich berührt, hören zu müssen, daß dieser berühmte Feldherr Todes verblichen sei6). In wenigen wohlgewählten Sätzen erinnerte er an dessen außerordentliche Verdienste, und dies war aller Wahrscheinlichkeit die letzte Leichenrede, die über der Asche des Siegers von Waterloo gesprochen wurde. Als diese schmerzliche Erregung etwas verflogen war, machte Moncade einige beißende Bemerkungen gegen die Franzosen im allgemeinen und gegen den revolutionären Geist im besonderen und ließ, ohne sich freilich klar auszusprechen, hinreichend durchblicken, daß er für seine Person an den Erinnerungen des griechischen Unabhängigkeitskrieges wenig Vergnügen fände; denn die Regierung in Athen habe für gut befunden, einen Eparchen auf die Insel zu senden, während man, solange der Sultan über den Archipel regiert habe, nie und nimmermehr einen Türken dort zu sehen bekommen habe, sei er vornehm oder gering. Er persönlich schätzte nur die alten Familien, die Leute von edler Rasse, das heißt von europäischer Abkunft; er konnte es nicht vergessen, daß seine Vorfahren vom südlichen Frankreich herübergekommen waren, wo möglicherweise ihr Name noch anzutreffen sei, und er hatte sichere Kunde, daß keine Mißheirat die Reinheit des Blutes, das in seinen Adern rollte, getrübt habe. Moncade, lebhafter und redseliger als Phrangopulo, nahm sehr oft Gelegenheit, in dessen Namen zu sprechen. Auf diese Weise erfuhr Norton, daß dieser ebenso gut ein Edelmann sei wie der Konsul Ihrer britannischen Majestät. Zwar trug er einen griechisch klingenden Nahmen, aber dieser zeugte gerade zu seinen Gunsten; denn er besagte: ein Frankensohn, während der eigentliche Name des Geschlechts unglücklicherweise untergegangen und vergessen war. Alle politischen und gesellschaftlichen Ansichten Moncades teilte auch sein Freund, was er durch wiederholtes Kopfnicken zu erkennen gab. Übrigens besaß er nicht entfernt einen so weiten Gesichtskreis wie jener.

Zeit seines Lebens war er nicht von der Insel fortgekommen. Er vertrat die Hansastädte nach demselben erblichen Rechtsanspruch, nach dem Moncade für Groß-Britannien amtierte. Aber minder glücklich als dieser, hätte er sogar niemals einen Bürger der deutschen Macht, zu der er gehörte, in diesem Leben zu sehen bekommen, wenn nicht im Jahre 1845 eine hamburgische Handelsbrigg, die eine Ladung Bretter führte, sich durch einen Sturm hätte aus dem Kurs bringen lassen und auf die Klippen von Antiparos geworfen wäre. Es hatte eine gehörigen Schiffbruch gegeben, bei dem die Ladung verloren gegangen war. Aber die Menschen hatte man gerettet, und der Kapitän Peter Gansemann hatte nach einem einmonatigen Aufenthalt in Naxos in den Händen Phrangopulos, gleichsam als rechtskräftiges Dokument, eine Urkunde zurückgelassen, wodurch er die entfernteste Nachwelt davon in Kenntnis setzte, daß Herr Phrangopulo der ehrenwerteste Mann sei, der ihm je vorgekommen, und daß er ihn und seine Bemannung während seines gezwungenen Aufenthaltes auf der Insel gespeist und getränkt habe; und diese Großmut sei um so verdienstlicher, fügte der gar zu erkenntliche Kapitän hinzu, als der würdige Konsul anscheinend in fast ärmlichen Verhältnissen lebte.

Man mag die Welt im übrigen keineswegs allzu vortrefflich finden, immerhin darf man glauben, daß viele gute Taten schon hienieden ihren Lohn finden. Phrangopulo wenigstens bekam den seinigen in dem Sinne, daß der Aufenthalt des Kapitäns Gansemann in seinem Leben Epoche machte. Allerdings hatte letzterer, da er nur deutsch sprach, seinem Wirte nicht viel neue Gedanken vermitteln können; aber er war und blieb der Held des Hauptereignisses in der Chronik des Konsularhauses, und der Geist des alten Edelmannes verarbeitete diesen Stoff dergestalt, daß schier eine Geschichte aus Tausendundeine Nacht daraus wurde. Er schätzte seine Urkunde um so höher, als er nie Gelegenheit gefunden hatte, sie sich übersetzen zu lassen, und mithin ebensowenig von ihrem Inhalt ahnte, als wenn man ihm die vier Bücher des Konfuzius7)  im Urtext in die Hand gedrückt hätte.

Die Phantasie Henry Nortons bedurfte nur einer geringen Anregung, um in Tätigkeit zu treten. Daher erfaßte sie von selbst den Berührungspunkt, den man allein mit so sonderbaren Personen haben konnte. Eine Insel des griechischen Archipels in all ihrer wunderbaren Anmut wurde hier vertreten durch zwei alte Trümmer europäischen Adels; diese beiden alten Adelstrümmer sprachen nur griechisch, sie wußten nichts von dem, was in der weiten Welt vorging, und noch dazu in dieser Zeit der Geschwätzigkeit, wo ein jeder besser über die Angelegenheit des Nächsten unterrichtet ist als über seine eignen; sie schienen durch diese wundersame Unwissenheit beweisen zu wollen, daß ihr Wohnsitz, der doch nur wenige Stunden von Athen entfernt ist, tatsächlich weiter von der gebildeten Welt abliege als die inneren Provinzen Amerikas. Das war eine von den starken Seltsamkeiten, für die der Kapitän der Aurora schwärmte. Indessen schien sie ihm doch so stark, daß er sich nicht ohne weiteres ihrem Zauber hingab, sondern zuvor den Beweis dafür in Händen haben wollte, und seine neuen Freunde ließen sich nicht bitten, ihm diesen aufs befriedigendste zu liefern. Kein Postschiff verkehrt zwischen den meisten der Inseln und dem griechischen Festlande, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil diese kleinen Gebiete weder Handel noch Industrie, weder Einfuhr noch Ausfuhr haben und so keinerlei Veranlassung zu regelmäßiger Postverbindung geben. Nur alle vierzehn Tage fährt ein Zweimaster von Syra nach Paros und bringt einige wenige Briefe oder Pakete, die dorthin bestimmt sind; wenn sich darunter, was ein seltener Zufall ist, etwas für Naxos befindet, so nimmt irgendeine Barke es je nach Gelegenheit mit; diese Art des Postverkehrs ist vollkommen ausreichend. Auf diese Weise kommen auch Zeitungen auf die Insel; aber was für ein Interesse können sie erwecken bei Leuten, die in ihrem kleinen Bereich eingesperrt sind und keine Neigung haben, es zu verlassen, die nie etwas lesen, also von den Weltereignissen nichts wissen und sich gar nichts daraus machen, ob sie etwas davon wissen, die nichts besitzen als Weinstöcke, Ölbäume, Orangen, Granaten und hier und da ein paar Schafe, kurz, die wie der glückliche Mann bei Horaz in einem gewissen Mittelmaß dahinleben, das übrigens bei ihnen keineswegs golden ist. Allerhöchstens raffen diese praktischen Lebensweisheiten unter dem, was sie so stückweise erfahren, gelegentlich einige nicht aufregende Unterhaltungsstoffe auf. So führen die Edelleute von Naxos ein friedliches Dasein. Zu bedürfnislos, um jemand nötig zu haben, hinlänglich bekleidet und genährt, so daß sie unter dem lieblichsten Himmel Entbehrungen in ihrer glückseligen Ärmlichkeit nicht fühlen, lässig aus Überzeugung, stolz auf ihre Vergangenheit, aber auch wohl geschickt, die nötige Würde in der Gegenwart zu wahren, schätzen sie sich um kein Gran geringer als die Menschen mit dem angeregtesten Leben in der lebhaftesten modernen Gesellschaft.

Natürlich teilen sie mit den Bewohnern von Griechenland eine tiefe Verehrung für die Vorzeit des von ihnen bewohnten Landes und beanspruchen eine Art Eigentumsrecht an dem Ruhmesglanze, der von da auf ihr Haupt herüberstrahlt. Aber am liebsten versetzen sie sich doch in die Zeit der Kreuzzüge zurück. Damals wurde das französische Herzogtum der Zykladen gegründet, und die Ritter schufen sich die Lehen auf den Inseln. Die Mehrheit des Adels von Naxos führt ihr Geschlecht bis in jene Zeiten zurück. Allein hierin täuschen sich viele von ihnen. Das französische Herzogtum hat seit jener Zeit mancherlei Wandlungen durchgemacht. Die Eroberergeschlechter starben eins nach dem andern aus und wurden durch andre ersetzt, die zwar auch fränkisch waren, aber weniger alt; die Venezianer siedelten eine Menge Italiener an; auch die französischen und spanischen Abenteurer des siebzehnten Jahrhunderts lieferten ihren Beitrag und ebenso die Griechen. Als nun der letzte Erbe des europäischen Herzogshauses sich genötigt sah, seine Macht zugunsten der Türken niederzulegen, änderten diese eigentlich nichts an der politischen Verfassung der Insel; sie entsandten auch keine Bekenner des Islam dorthin; ja sie taten noch mehr: sie setzten ihrerseits einen Herzog auf den Thron, einen jüdischen Arzt des Sultans8). Aber dieser Sohn des Moses hatte keine Nachfolger, und da er niemals auf der Insel residiert hatte, stand sein Palast, der dem Namen nach des Sultans Eigentum war, verlassen und wurde allmählich von dem Adel von Naxos selbst zerstört; denn der fand es gar zu bequem, billige Bausteine aus diesen Bauten zu gewinnen, auf die niemand Anspruch erhob, die niemand schützte und die nicht im Stande erhalten wurden. Und seitdem wurde die Verwaltung des kleinen Gebietes gänzlich städtisch und republikanisch, wobei die alten Familien das Heft in der Hand hatten. Adel und Volk, die einen so arm wie die andern, daran gewöhnt, von der ganzen Welt vergessen nur untereinander zu leben, unberührt von den Streitigkeiten, weil sie tatsächlich nichts besaßen, worüber sie sich streiten konnten, lebten und leben noch heute in einer so vollkommenen Einmütigkeit, daß der Katholizismus der einen und das orthodoxe Bekenntnis der andern sie nicht darin stören. Auch die Anwesenheit zweier Bischöfe, die feindliche Kirchen vertreten, ein französisches Lazaristenkloster, das dort, man weiß nicht recht warum, Land erworben hat, die Gründung eines andern Klosters burgundischer Ursulinerinnen, nichts hat die unbeirrbare Sanftmut dieses Völkchens aus dem Geleise bringen können, das es sich erlauben darf, noch im neunzehnten Jahrhundert eine Art paradiesischen Daseins zu führen.

Als dem Kommandanten Henry Norton aus der Unterhaltung mit seinen beiden Gästen, die er zum Frühstück bei sich behalten hatte, diese Sachlage klar geworden war, traf er ganz entzückt eilig seine Vorbereitungen, um an Land zu gehen und so anziehende Dinge näher kennen zu lernen. Er gab dem ersten Offizier seine Verhaltensmaßregeln, bestieg dann mit Moncade und Phrangopulo seine Nußschale und fuhr, begleitet von Dido, die mit nicht geringerer Befriedigung als ihr Herr das Schiff verließ, auf eine kleine hölzerne Landungsbrücke los, wo bereits ein ansehnlicher Teil der Bevölkerung, d.h. ein Dutzend Schiffer, mit freudiggespannter Neugier seiner harrte.

Einige Frauen trugen hübsche Kinder auf den Armen. Jeder grüßte den Fremden mit freundlicher Miene. Dieser stieg, rechts und links von seinen beiden Führern begleitet, einen schmalen Pfad hinan, der durch allerlei Trümmer, Schutt und unbebaute Plätze führte, und gelangte so nach mehreren Minuten ziemlich steilen Anstiegs an ein flachgewölbtes Tor, den letzten Rest der Zitadelle. Dieser etwas dunkle Zugang führte auf eine mit Platten gepflasterte Gasse. Das war die Hauptstraße; sie stieg zwischen einstöckigen Häusern im italienischen Baustil des achtzehnten Jahrhunderts in Windungen bergauf. Über jedem Haustor waren Wappenschilder in Stein gemeißelt. Der dunkle und kühle Straßenraum zeigte wenig Fußgänger; er glich daher mehr dem Hofe einer Privatwohnung als einer öffentlichen Straße. Bisweilen nur sah man ein mit Holz, Gemüse oder Früchten beladenes Maultier des Weges ziehen, das mit Vorsicht seine Bahn wählte.

Moncade machte vor einen gewölbten Tore Halt, das wie die andern auf dem Schlußstein der Wölbung ein Wappen trug. Mit einer tiefen Verbeugung bat er den Kommandanten, ihm die Ehre zu schenken, einen Augenblick bei ihm auszuruhen, und er hatte seine liebenswürdige Bitte kaum ausgesprochen, als sie bereits gewährt war. Mit einem wurmstichigen hölzernen Türklopfer anpochend, führte alsbald der Konsul Ihrer britannischen Majestät zu Naxos Henry Norton in einen weiten, gewölbten Saal, ähnlich einem der Keller, in denen vordem die reichen Abteien in Europa die Fässer und Tonnen voll des Köstlichsten ihrer Weinlese zu sammeln pflegten.

Das Tageslicht fiel in diesen feierlichen Raum nur durch die breite Mauerausbuchtung, in deren Mitte das hölzerne Tor angebracht war und deren Fachwerk außerdem eine Reihe von drei Fenstern freiließ. Das Mauerwerk war mit Kalk verputzt. Der Fußboden, in derselben Weise gepflastert wie die Straße, mit der er in gleicher Höhe lag, war durch keine Schwelle von jener getrennt. Im Hintergrunde des Saales breitete sich ein alter, äußerst abgenutzter Teppich aus; dort trieben sich auch einige Möbel umher: eine geschnitzte Truhe in venezianischem Geschmack9), zwei oder drei Lehnsessel, mit gelbem Utrechter Samt überzogen, einige strohgeflochtene Stühle und ein Tisch, auf dem Alabastervasen von Florentiner Arbeit standen. Die Bildnisse der Königin Viktoria und des Prinz-Gemahles, die augenscheinlich von einem Todfeinde des Hauses Hannover herrührten, wurden dem Kommandanten mit einem gewissen Stolze gezeigt. Denn es gab wenige Meisterwerke der Art auf der Insel.

Kaum hatte man Platz genommen, als Norton von dem lebhaften Wunsche ergriffen wurde, seinen Tag keinesfalls mit der Betrachtung des weißen Gewölbes über seinem Haupte hinzubringen. Demgemäß fragte er seine Freunde, wie man in Naxos seine Zeit am besten verwenden könne. Es wurde zuvörderst grundsätzlich festgelegt, daß man ihn nicht eine Minute verlassen würde, und er sah wohl ein, daß das Verlangen, allein zu sein, seine Wirte zugleich betrüben und schwer beleidigen würde. Nur anstandshalber erhob er einigen Widerspruch, den er jedoch sofort wieder fallen ließ. Norton sah ferner ein, daß er nicht daran denken dürfe, seinen Aufenthalt in ein unmögliches Inkognito zu hüllen. Das Erscheinen eines Kriegsschiffes im Hafen von Naxos war ein so außergewöhnliches Ereignis, daß das ganze gesellschaftliche Leben des Landes davon berührt wurde; überall sprach man davon; die wichtige Nachricht verbreitete sich auf den Flügeln der Fama mit so wundergleicher Geschwindigkeit, daß sie in wenigen Minuten auch die einsamsten Täler bis in die innersten Winkel hinein durcheilt haben mußte; und so gab es kein Ausweichen mehr; er mußte der berechtigten Neugier der angesehenen Leute Genüge tun und den Bischöfen sowie den zwei oder drei Häuptern der ersten Familien des Landes zeigen, was ein englischer Schiffskommandant sei, eine Art Wesen, von dem die Kundigsten nur hatten sprechen hören, das aber noch niemand zu Gesicht bekommen hatte. War diese Pflicht erledigt, so wollte man sich aufs Land zu Herrn Phrangopulo begeben und dort den Rest des Tages verbringen.

Als die Dinge so geordnet waren, schickte sich Henry an, mit Humor in den sauren Apfel zu beißen. Auf den Tritten der Haustüren waren Männer, Frauen und Kinder versammelt und grüßten den Fremdling mit dem freundlichsten Lächeln von der Welt. Über diesen wackeren Leuten lag die Gemächlichkeit und Seelenruhe, welche Muße und Freiheit von dringenden Geschäften den Menschen verleihen. Die Schönheit der meisten Frauen war auffallend. Ein wundervoller Himmel, eine über die Maßen malerische Stadt, die ganz klein und zusammengedrängt dem Neste einer einzigen Familie glich, der ungetrübteste Friede, eine anziehende Liebenswürdigkeit auf vielen Gesichtern, gute Laune auf allen, das alles trat dem neuen Ankömmling wohltuend entgegen, und seine Seele war nicht so unempfindlich, um hiervon nicht sanft gerührt und ergriffen zu werden. Noch waren nicht zwei Stunden vergangen, seitdem die alten Edelleute sich auf der Aurora vorgestellt hatten, und schon fand sie Henry Norton durchaus nicht mehr lächerlich, ja nicht einmal sonderbar; er bemerkte an ihnen nur noch ihre ausgesuchte Höflichkeit, ihren Wunsch sich angenehm zu machen und die echteVornehmheit und angeborene Feinheit ihres Benehmens.

Bei allen Besuchen wurden Kaffee und Zigaretten gereicht. Dabei wurden die Fragen über den augenblicklichen Zustand Europas vorschriftsmäßig erledigt, und nachdem so den unumgänglichen Anstandspflichten genügt war - zur allgemeinen Befriedigung, besonders des Hundes Dido, der es eilig hatte, damit fertig zu werden -, verließen die drei Freunde die Ummauerung der Festung und das Trümmerfeld auf ihren Abhängen, um hinter einer verfallenen Hütte drei Maulesel aufzusuchen, die von Phrangopulo bestellt waren und die Ehre haben sollten, die Reisenden davonzutragen.

In Naxos auf den Pfaden in der Nähe des Meeres zu Fuß zu gehen, würde ein, wenn nicht unmöglicher, so doch sehr schwieriger und ermüdender Versuch sein. Alles ist Sand, und zwar feiner, tiefer, beweglicher Sand. Dichte, hohe, blühende Hecken durchziehen diesen unbeständigen Boden und klettern sogar an den Felsen hinauf, die ihn begrenzen. Dieses Gelände durchreitet man mehrere Stunden, bei strahlendem Himmel und brennenderSonne. Dann enthüllen sich die Berge einer nach dem andern, weichgeformt, von tiefen Schluchten durchschnitten. Man sieht einige grüne Eichen und Pistazien; am Fuße der Abhänge rauschen Bäche von herrlicher Frische, an denen Oleander in Menge wachsen; auch etwas Vieh weidet hie und da. Auf den Anhöhen aber erheben sich gleich lieblichen trotzigen Kindern kleine viereckige Schlösser von blendender Weiße. Sie haben nur wenig Fenster, an ihren Ecken stehen vier runde Türme, einige sind sogar mit Zinnen versehen. Diese kleinen Befestigungen, wie Ritterburgen anzusehen, machen auf einer griechischen Insel einen sonderbaren Eindruck. Sie sind Erinnerungen an eine Zeit, wo die Seeräuber der Barbareskenstaaten die Meere ringsum befuhren, kühne Landungen wagten und die schönsten Mädchen raubten, um sie auf den Märkten von Konstantinopel, Alexandria oder Smyrna zu verkaufen. Sie lieferten so Stoff zu einer Unzahl von Romanen, von denen allerdings fast keiner geschrieben und herausgegeben ist. Die Bevölkerung indessen, wenig begierig, sich solchen romantischen Ereignissen auszusetzen, wagte nicht, an den Küsten zu wohnen, und so kommt es, daß in dem ganzen Archipel die Wohnungen in der Regel auf Anhöhen angelegt sind, womöglich auf einer Erhebung, von der man das offene Meer überschauen konnte.

Nichts kann hübscher sein als eine solche Burg. Weinberge, riesige Orangenbäume, Feigen- und Pfirsichbäume und Anpflanzungen aller Art schließen sie ein, die sicher sehr wenig gepflegt werden, aber um so üppiger, freier und lebensfrischer gedeihen.

Man war ungefähr zwei bis drei Stunden geritten, als eins dieser kleiner Schlösser am Abhang eines Hügels sichtbar wurde. Es war weißer als die andern, dazu reizender, anmutiger und kecker. Viel zierlicher streckte es seine vier Türmchen in die Luft. Weit grüner und belaubter waren die Bäume in seiner Umgebung, auch voller von Zitronen und Orangen, und reichere Weinberge lagen ringsum. Es zog sofort die Blicke Henry Nortons auf sich und hielt sie fest. Es war wie eine Bezauberung, und als Moncade, der gerne das Wort führte, ihm ankündigte, daß dies das Ziel des Ausflugs sei und daß man jenseits eines kleinen Steges, der über den Bach gelegt war, das Landgut seines Freundes betreten werde, hatte der englische Reisende das Gefühl, daß er jetzt eine Art Rubicon zu überschreiten habe, daß er auf dem einen Ufer sein altes Leben zurücklasse, um auf dem andern ein neues Dasein zu beginnen. Solche Eingebungen haben wir manchmal und sehen uns später getäuscht; sie hängen ab von der Laune, vom Wetter, von gesteigertem physischem Wohlgefühl. Erregbare Naturen geraten bei tausend Anlässen über alles und über nichts in Bewegung, und was noch schlimmer ist, sie geben sich gern dem Glauben hin, daß ihre Gefühlsschwankungen von prophetischer Bedeutung seien und ihnen einen Blick in die Zukunft eröffneten. Natürlich begegnet es ihnen oft, daß sie sich täuschen. Allein es würde wieder der entgegengesetzte Aberglaube sein, wenn man es zum Dogma erheben wollte, daß sie sich stets täuschen.

Dem sei nun, wie ihm wolle, so viel ist gewiß: Norton ritt auf das kleine Schlößchen zu mit weit offnem Herzen. Seine Seele war mit einer Freude ohne Grund erfüllt, und seinen Geist umschmeichelten tausend Ahnungen, tausend Gedanken und tausend Empfindungen, eine immer lebhafter, heiterer und gehobener als die andre.

Die Natur des gebirgigen Eilandes bringt es mit sich, daß man sich beständig bergauf oder bergab zu bewegen hat. Hier stiegen die Wanderer noch einen kieselgepflasterten, gewundenen Pfad hinan, der sehr steil war, und gelangten so über einige Höfe an Bauernhäusern vorbei bis zum Gipfel der Kuppe, wo das Schlößchen eingenistet war. Am Fuße einer schmalen Steintreppe stiegen sie ab und erreichten einen ebenso schmalen Vorbau, von dem aus sie einen ähnlichen Saal betraten, wie ihn Norton bereits in der Stadt bei Moncade mit Staunen betrachtet hatte. Es war genauso ein länglicher, weißgetünchter Keller, gewölbt wie eine Kirche und ziemlich hell, nur noch einfacher oder, wenn man will, ärmlicher ausgestattet. Ein niedriges, kattunbezogenes Sofa bildete das Hauptstück der Ausstattung am Ende des Raumes. Auf der andern Seite führte eine leichtgebaute Holztreppe zu einer Galerie hinan, die an einer kleinen, niedrigen Pforte endigte, offenbar dem Eingange zu den Wohnzimmern der Familie. Man merkte sogleich, daß in den alten Zeiten, wo das Schloß aus Furcht vor den Überrumpelungen der Seeräuber hier oben auf dem Gipfel gebaut war, die Erbauer es für gut befunden hatten, eine ergänzende Vorsichtsmaßregel hinzuzufügen. Falls es nämlich den gefürchteten Friedensstörern gelungen war, unbemerkt ans Land zu steigen, konnte man ihnen den unteren Teil des Hauses preisgeben und sich in den oberen zurückziehen; denn ein Fußtritt auf die schwache Treppe genügt, um den letzteren abzusondern. Im ganzen barg das Schlößchen nur vier oder fünf Räume, seinen Abschluß bildete eine Plattform mit den vier Wachttürmchen an den Ecken, auf der augenblicklich die Maisernte dörrte.

Alles dieses wurde von Norton bis in die kleinste Einzelheit besichtigt und geprüft, und als er sich an der Schönheit de rLandschaft, die um den altenvenezianischen Wohnsitz sich ausdehnte, satt gesehen hatte, kehrte er in den großen Saal zurück, wo ihn ein Schauspiel andrer Art erwartete. Der weibliche Teil der Familie hatte sich auf dem Sofa versammelt. Da war die Mutter des Hauses, Frau Marie Phrangopulo, eine ehrwürdige alte Dame von großem Umfang und geringer Beweglichkeit, die bedächtig die Kugeln ihres Rosenkranzes durch ihre runden, kurzen Finger gleiten ließ. Man bemerkte an ihr die großen schwarzen Augen derLandeskinder und den Ausdruck vollkommenster Seelenruhe; auch nicht ein Schatten von Lebhaftigkeit war zu merken. Aber einige zwanzig Jahre vorher mußte sie das gewesen sein, was man eine Schönheit nennt. Die Dame an ihrer Seite, die man Norton als ihre Schwiegertochter vorstellte, war von bräunlichem Typus. Sie hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht mit wunderbarem, schwarzglänzendem Haar und zwei tiefen, dunklen Augen, die zu denken gaben. Vielleicht war gar nichts dahinter, doch das ist ein Geheimnis, daß wir unberührt lassen wollen. Dies war Frau Triantaphyllon Phrangopulo. An ihren Rock klammerten sich zwei kleine Jungen, der eine kastanienbraun, der andre schwarzhaarig wie sie selbst, beide schön wie Engel. Sie sahen den Fremdling mit jener Miene unversöhnlichen Mißtrauens und tiefer Verwunderung an, die stets an kleinen Kindern so reizvoll ist. Ein drittes Kindchen, das die junge Frau auf dem Schoße hielt, preßte mit seinen rosigen Händchen eine Orange, auf die es alle seine Geisteskräfte richtete; ein Töchterchen von wenigen Monaten wurde von einer kleinen syrischen Dieneringetragen. Bei dieser Gelegenheit müssen wir einflechten, daß die ganze Vergangenheit der Inseln sich ziemlich genau in ihrem gegenwärtigen Bilde erkennen läßt. Im Altertum sahen die Zykladen mehr Asiaten als Griechen auf ihren Küsten hausen, mehr Phönizier als Hellenen - die Altertumsreste, die sich dort finden, zeigen häufiger die mißgestalteten Fetische von Tyrus und Sidon, als die feingebildeten Götter von Athen - und heute stehen die Dinge noch ungefähr genau so. Die Athener haben es nicht eilig, ihr Lebensschifflein an diesen Küsten scheitern zu lassen, wo alle Reize der Natur doch gegen die Lockungen des großen Konstantinopel, des geschäftigen Smyrna, des reichen Alexandria nicht aufkommen können, und umgekehrt haben die Völker Kanaans ihre alten Wege nicht vergessen. So kommt es, daß man Dienstboten von ihrer Rasse auf Naxos antrifft, wo sie sich unter die Nachfahren der Kreuzritter mischen.

Indem Norton noch über alle diese Einzelheiten nachdachte, hörte er die Pforte der oberen Galerie gehen und sah ein Wesen eintreten, bei dessen Anblick er zunächst zu träumen wähnte; so wenig war er darauf gefaßt. Es war ein junges Mädchen, das mehr als bescheiden gekleidet war, in einem Gewande von braunem, weißgetupftem Kattun, das sie sicherlich selbst zugeschnitten und genäht hatte; denn es schien völlig ungeeignet, ihr als Schmuck zu dienen, und war durchaus nichts als eben ein Kleidungsstück. Seine weiten Ärmel reichten bis zum Handgelenk; keine Spitzen, kein Putz, es konnte nichts Schmuckloseres geben. Aber welch eine Gestalt barg es: schlank, kräftig, fest, gesund! Die Gesichtsfarbe war die einer Nereide von Rubens; wunderbare Augen zierten ihr Antlitz, glänzend wie blaue Saphire und ebenso durchsichtig. Den Rahmen des Gesichtes bildete dichtes, überreiches braunrotes Haar; man hatte den Eindruck als ob es mit einiger Ungeduld zusammengschlungen sei, weil es nur mit Mühe zu bändigen war, gleichwohl schien es feiner als Seide und wunderbar geschmeidig. Der rosigste Mund öffnete sich zum heitersten Lächeln und ließ Zähne sehen, die den alten Vergleich mit einer Perlenschnur völlig verdienten. Und ihr ganzes Wesen atmete holde, fleckenlose Unschuld, die sich dem ersten Blick von selbst offenbarte, und die liebenswürdige Ruhe vollkommener Harmlosigkeit.

Wird man verliebt auf den ersten Blick, oder ist man es erst nach mehreren Verwundungen des neckischen Gottes? Das ist eine Frage, über welche die Gelehrten nicht einig sind. Man könnte indes denken, daß es mit der Liebe ähnlich sein muß, wie mit dem Tode, der doch nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift nicht einmal so stark ist wie sie. Wenn man nicht auf den ersten Hieb tot ist, so ist der Grund der, daß man schlecht getroffen ist. Aber der Schlag, der dich für immer zu Boden streckt, hätte dies auch ohne die vorangegangenen getan. Ebenso die Liebe. In dem Augenblicke, wo sie dich wie ein Blitzschlag niederwirft, hat sie eben gut getroffen, und so ist man tatsächlich vom ersten Augenblick an verliebt. Norton hätte wahrscheinlich diesen Satz nicht gelten lassen. Stolze Menschen sind nie gern beim ersten Angriff besiegt. Aber als das junge Mädchen den Fuß der Treppe erreicht hatte und den langen Saal durchschritt, um sich zu seiner Mutter zu setzen, hielt es der Kommandant doch für nötig, alle Steifheit eines zivilisierten Europäers zu Hilfe zu rufen, um seine Erregung zu verdecken; er zwang sich zu einer kühlen, abgezirkelten Haltung, die der britischen Flagge würdig war. Es war wirklich nicht seine Schuld, wenn er durch den elastischen, edlen, ungemein anmutigen Gang der Eingetretenen an den Halbvers des Vergil10)  erinnert wurde über die Art, wie Göttinnen gehen. Noch weniger lag es an ihm, daß er plötzlich, als das junge Mädchen sich gesetzt hatte, die Augen der ganzen Familie auf sich gerichtet sah. Dabei lächelten alle mit unschuldigem Stolz, und Moncade sagte mit der Miene eines Mannes, der eine unumstößliche Wahrheit zu verkünden hat: "Ich denke, Sie haben noch nichts so Schönes gesehen, wie mein Patenkind Akrivia?"

Jeder schien die Antwort des Kommandanten mit ruhiger Zuversicht zu erwarten; der Gegenstand einer so schmeichelhaften Bemerkung lächelte ohne die geringste Verlegenheit und war offenbar selbst überzeugt, daß das eben Gesagte unbestreitbar sei. Norton war verdutzt über eine so haarsträubende Umkehrung jedes gesellschaftlichen Brauches und der heiligsten Vorschriften des guten Benehmens; er nahm eine etwas verwirrte Haltung an und machte eine Verbeugung. Wir können kaum dafür einstehen, daß nicht in einem Winkel seines Hirns irgendein häßlicher Verdacht aufstieg, woran wir Kulturmenschen ja so reich sind. Aber wenn ihm das passierte, so muß man zu seinem Lobe sagen, daß er diese Schändlichkeit in seinem Kopfe nicht aufkommen ließ. Alles was dabei herauskam, war dies, daß er vermöge eines Rückschlags, der ihm Ehre machte, den britischen cant (heuchlerische Sprache, Scheinheiligkeit; Anm. d. Hg.) über den Haufen warf, um ruhig Moncade zu antworten: "Ich hätte nicht geglaubt, daß es etwas so Vollkommenes wie die junge Dame überhaupt geben könnte."

"Ich will nicht sagen," fuhr der englische Konsul fort, "daß mein Patenkind nicht ebenbürtige Nebenbuhlerinnen auf unserer Insel hat. Wenn Sie am Sonntag zur Messe kommen, werden Sie sehen, daß unsere jungen Mädchen überhaupt hübsch sind; aber so eine wie sie trifft man doch nicht weiter, das ist eine Tatsache, und sie ist darüber nicht böse. Nehmen Sie eine Zigarette?"

Man brachte Tabak. Norton sagte sich: "Ich bin närrisch oder dicht daran es zu werden. Sie ist ja hübsch; wozu es bestreiten? Aber sie ist so geschmacklos ausgeputzt, daß es über den Spaß geht. Sie erscheint mir anmutig, weil ich in Naxos bin und sie in einer Wildnis von Orangenbäumen und Oleandern sehe. In einem Londoner Salon wäre das etwas andres. Ich glaube von hier die spitzen Bemerkungen der Lady Jane zu hören. Welche Hinrichtung! Und überdies, was für eine Erziehung mag dieses unglückliche Kind genossen haben? Sie wird lächerlich einfältig sein! Ich muß sie doch einmal zum Sprechen bringen."

Wenn in der Levante Leute einander wohlwollen und glücklich sind, zusammen zu sein, so lieben sie es, dieses Vergnügen ganze Stunden zu genießen, ohne den Mund aufzutun. Man sitzt da, raucht, sieht sich an und ist zufrieden, aber man spricht kein Wort und verspürt nicht die mindeste Neigung geistreich zu sein. Das eben ist der Grund, weshalb die Bewohner dieser Länder sich nie langweilen. Norton hätte also seine Zurückhaltung ins Unbegrenzte fortsetzen können, ohne daß er damit aufgefallen wäre. Der Herr des Hauses, unterstützt von einem kleinem Diener, bereitete mit kundiger Hand Limonaden. Frau Marie zählte mit innigem Behagen die Kügelchen ihres Rosenkranzes. Frau Triantaphyllon wiegte sanft das dicke Kind, das es endlich fertig gebracht hatte, ein Loch in seine Orange zu bohren, und daran saugend eingeschlafen war. Die beiden Knaben waren mit der syrischen Dienerin und dem Säugling hinausgegangen. Die schöne Akrivia blickte frei den Fremden an, und, ohne Hintergedanken zu hegen, betrachtete sie ihn genau, da er für sie eine ganz andre Menschengattung darstellte, als sie bislang gesehen hatte. Moncade endlich paffte Zigaretten mit einer Würde, die ihm von einem Mohikanerhäuptling beim Rauchen der Friedenspfeife große Achtung eingetragen hätte.

Norton versuchte seinem geringschätzigen Vorurteil gemäß ein Gespräch mit Akrivia anzuknüpfen in der unschuldigen Absicht, zunächst den Hausrat ihres Geistes aufzunehmen, um später zu dem ihres Herzens überzugehen. Das war die Kur, die er anwenden wollte, um die Erregung seines Herzens, die ihn gar zu schnell überkommen hatte, zu überwinden. Ihr Geist schien ihm recht eigenartig; er fand darin nichts von den Kenntnissen, die in den glücklichen Ländern, wo die gute Erziehung und der vornehme Salon gedeiht, das Vorstellungsvermögen einer jungen Dame zieren. Sie wußte eigentlich gar nichts und schien auch nicht im mindesten zu ahnen, daß das Gegenteil von Nutzen sein könne. Norton entdeckte zufällig, daß sie glaubte, Spanien läge bei Amerika, ohne daß sie übrigens eine Vorstellung davon hatte, wo dieser Weltteil zu suchen sei. Er lag doch aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich weit von Naxos. Der Kommandant war nun so schulmeisterlich, ihr bessere Kenntnisse in diesem Punkt beibringen zu wollen. Aber sie ließ ihn reden und schien seinen Worten nicht die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Indes fand er sie empfänglich für die Aussicht, daß die Christen wieder von Konstantinopel Besitz ergreifen könnten, und im Gegensatz zu ihrem Vater und Paten war sie sehr erbost auf die Türken, denen sie aus glühendem HerzenvölligeVernichtung wünschte. Sie glaubte fest, daß diese Ungeheuer die Kinder lebendig fräßen, und hielt es für wahrscheinlich, daß sie alsbald neue räuberische Landungen versuchen würden. Da Norton sie auf dem Gebiete der Politik so von Romantik erfüllt sah, versuchte er, sie auf Literatur zu bringen. Da aber verriet sie eine vollkommene Leere: sie hatte nie etwas gelesen als ihr Gebetbuch und hatte selbst darüber nicht groß nachgedacht. Er war verwundert, daß eine solche Phantasie, die sich mit Leichtigkeit dazu erhob, so eigenartige Dinge bei einer zukünftigen Eroberung der Kaiserstadt Stambul zu schauen und diesen Vorgang mit so reichen Erfindungen auszumalen, nicht den geringsten Genuß in den Druckseiten eines Buches zu ahnen schien. Er wollte sich nun herablassen, die malerischen Schönheiten der Insel und des Meeres genauer zu erörtern. Akrivia schien auch geschmeichelt, daß dem englischen Herrn die Landschaft gefiel; da sie eben keine andre kannte, war sie von Grund aus überzeugt, daß es die schönste und anmutigste der Welt wäre; aber gerade wegen der Unmöglichkeit zu vergleichen schien sie unempfindlich und verschlossen für jede Begeisterung darüber. So sprach sie denn von nichts, sie wußte nichts, sie hatte über nichts nachgedacht, und sie verfügte über das, was man Konversation nennt, auf keinem Gebiete. Indes sie lächelte, sie tat ihre schönen Augen auf, und sie war bezaubernd.

Norton konnte es nicht über sich gewinnen, sie dumm zu finden. Im Gegenteil, Blitze des richtigsten Urteils, der unerschütterlichsten und selbständigsten Überzeugung, eine ersichtliche Kraft, eine gewisse natürliche Gesundheit in diesem gleichsam wild gewachsenen Geiste gaben ihm mehr zu denken, als die blütenreichsten Gesprächsergießungen vermocht hätten; denn in einem so feingebildeten Geiste, wie der seine war, hätte der größte Teil davon nur Erinnerungen wachgerufen und Anklänge auftauchen lassen. Die Unterhaltung führte ihn wahrlich nicht durch eine unfruchtbare Wüste, sondern nur über unangebautes Land, was für jemand, der sich über die Hilfsquellen eines Landes unterrichten will, ein bedeutender Unterschied ist. Er fand allerdings nicht, was er erwartete, aber er ahnte Dinge, von denen er weder den Namen noch die Verwendung, noch den inneren Wert kannte, und die dennoch zweifellos einen Schatz darstellten. Je freier Akrivias Lachen erklang, je weiter sie beim Ansehen ihre großen Augen öffnete, als ob sie ihn im Grunde ihrer Seele lesen lassen wollte, desto weniger begriff er sie, und es kam ganz von selbst, daß sich zu dem ersten Reiz, sie so schön zu sehen, bald der neue gesellte, daß er sie um so geheimnisvoller fand, je weniger sie selbst dies tatsächlich ahnte. In einem wesentlichen Punkte zeigte sie sich als Weib. Zufällig und wie durch Eingebung kam ihm der Gedanke, zu ihr von Toilette zu sprechen. Hier wurde das Interesse Akrivias sichtlich wach, wie auch das ihrer Schwägerin; sogar ihre Mutter kam aus ihrer stumpfen Gleichgültigkeit etwas heraus. Aber Norton sah wohl ein, daß er sich nicht allzu hoch versteigen dürfe, wenn er wirklich auf Verständnis rechnen wollte. Akrivia und Triantaphyllon betrachteten in allem Ernst ein Samtkleid als das Äußerste von menschlicher Eleganz und hielten goldene Armbänder für Schmuckstücke, durch die alle Wünsche auch der anspruchvollsten Frau reichlich erfüllt sein müßten. Was die eigentlichen Moden anlangte, so machten sie sich nicht viel daraus. Kurz Norton langweilte sich keineswegs; er wurde sogar mehr und mehr warm, je vertrauter er wurde, so daß er ziemlich überrascht war, als seine Wirte ihm plötzlich eröffneten, wenn er noch diesen Abend wieder an Bord gelangen wollte, wie er wiederholt aufs bestimmteste versichert hatte, so wäre es gerade noch Zeit, sich auf den Weg zu machen. Man bat ihn dabei freilich so liebenswürdig, am folgenden Tage wiederzukommen, daß er es gern versprach.

Verliebte Leute, ebenso wie Menschen, die ein Gott begeistert, haben wahrscheinlich Erleuchtungen, die den übrigen Sterblichen versagt sind. Sie beschäftigen sich gern mit Vorfällen von gehaltvoller Bedeutsamkeit und mit außerordentlichen Offenbarungen, die ruhigen Leuten als völlig nichtssagend und gleichgültig erscheinen würden. So war auch Norton, ein sonst ganz vernünftiger Mann, über das Benehmen Didos an diesem denkwürdigen Tage in tiefes Grübeln versunken. Als nämlich Akrivia oben auf der Treppe erschienen war, hatte sich Dido von dem Platze zu Füßen ihres Herren erhoben, den sie sich offenbar ausgesucht hatte, um, den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt, von den Anstrengungen des Marsches auszuruhen. Sie hatte während der ganzen Zeit, in der das junge Mädchen die Stufen herabkam, es starr angesehen und war daraufzugegangen; da sie nicht beachtet wurde, war sie ihm zutunlich bis zum Sofa gefolgt, hatte sich dort niedergesetzt und Akrivia unaufhörlich mit ihren großen schwarzen Augen betrachtet, die wie Karfunkel aus dem noch schwärzeren Vlies hervorleuchteten. Sie hatte überhaupt während des ganzen langen Besuches das junge Mädchen nicht eine Minute aus den Augen verloren; zwei- oder dreimal hatte sie der, die ihr eine so lebhafte Zuneigung einflößte, ihre schwere Pfote auf die Knie gelegt und zu ihrer sichtlichen Befriedigung das Glück gehabt, von ihr gestreichelt zu werden. Endlich, als beschlossen war aufzubrechen, ließ sich Dido dreimal rufen, ehe sie ihrem Herrn gehorchte. Dieser bewahrte den Eindruck, den ein so sonderbares Benehmen seines Lieblings bei ihm hervorrief, in seinem Herzen. So etwas war noch nie vorgekommen. Dido hatte sich bis dahin von niemand, sei es wer es sei, in ihrer treuen Anhänglichkeit an ihren Herrn beirren lassen, und selbst Thompson, der wichtige und einflußreiche Thompson, der die Einzelheiten ihres häuslichen Lebens besorgte und stets einen besonderen Platz in ihrer Schätzung inne gehabt hatte, war doch nicht fähig gewesen, ihr ein Gefühl einzuflößen, das einer solchen Bevorzugung gleichkam. Norton war fast erschrocken, Dido ebensowenig bei Verstande zu sehen wie sich selbst.

Es war spät geworden, als der Kommandant, nach dem herzlichsten Abschiede von seinen beiden vortrefflichen und liebenswürdigen Wirten, die Aurora wieder erreichte. Indem er am Fallreep hinaufstieg und die Wachmannschaften bemerkte, die ihn mit einer Laterne empfingen, indem er den Gruß des Wachhabenden erwiderte, trat er wieder in seine Alltagswelt, wo er gewohnt war sich behaglich zu fühlen. Diesmal freilich hatte er nicht diese Empfindung, und so schnell er vermochte, suchte er die nüchterne Wirklichkeit zu durcheilen, um sich wieder in seinen Traum zu versenken. Indes konnte er doch nicht umhin, den Bericht des ersten Offiziers entgegenzunehmen: Es ging alles gut auf der Aurora. Die sehr leichten Havarien konnten alsbald ausgebessert sein; die Offiziere hatten den Tag an Land verbracht und einen wunderschönen Platz zum Kricketspielen entdeckt. Die Partie war äußerst lebhaft gewesen, und man hatte sich vorgenommen, sie am nächsten Tage fortzusetzen. Man hatte einige Hammel gekauft, die nach derVersicherung des Kochs ausgezeichnet waren, und außerdem frisches Gemüse, dessen hervorragend guten Geschmack man bei Tische zu würdigen gewußt hatte. Kurz, der erste Offizier versicherte seinem Vorgesetzten, daß Naxos ein herrliches Land sei. Norton fühlte sich in Gefahr, dieser Anschauung nur allzusehr zuzustimmen, wenn auch aus andern Gründen. Er stieg endlich in seine Kabine hinab, hinter ihm Dido, bei der er mit einem gewissen Schrecken eine ähnliche Zerstreutheit wahrzunehmen glaubte wie bei sich selbst.

Es litt ihn jedoch nicht auf seinem Lager; er zündete sich eine Zigarre an und ging wieder auf Deck. Dort begann er einen jener eintönigen Spaziergänge, die für den Seemann so wertvoll sind; denn alles, was in ihm überschäumt an sehnsüchtigen Träumereien, unterdrückten Wünschen, vereitelten Plänen und überschwerem Kummer, das findet dabei freien Lauf und allmähliche Besänftigung. Vom äußersten Ende des Hinterdecks bis zum Fuße des Hauptmastes ging er auf und ab, sein Geist aber war tausend Meilen weit von dieser Welt der Bretter und Seile, in der sein Körper sich bewegte.

Der Nachthimmel war klar und tief, der Mond strahlte, und jeder einzelne unter den Tausenden von Sternen funkelte hell; doch seine Seele leuchtete nicht minder hell in ihm. Sie hielt, wie ein Heerführer, eine Truppenschau ab, freilich von sonderbarer Art. Sie überschaute alle die bezaubernden Schönheiten, denen sie, seitdem sie das Bewußtsein von sich selbst besaß, ein Gefühl zärtlicher Verwunderung geweiht hatte, sei es auch nur für eine Woche. Er sah sie vor sich, die frische Irländerin mit den feinen Zügen, von der er träumte, als er die Schule in Eton verlassen hatte; Molly Greeves, die so heftig weinte, als er nach seinem ersten Urlaub vom Hause seines Oheims Abschied nahm; Katharina Ogleby, mit der er sogar verlobt gewesen war und die nachher während seines Aufenthaltes in China einen Gardeoffizier geheiratet hatte; Mercedes de Silva in Buenos Aires, Jacinta in Santiago, Marianne Ackerbaum in einem der Ostseehäfen; es war wirklich wahr, er hatte sie alle geliebt, nicht alle gleich stark, aber er hatte sie doch geliebt; er hatte gehofft, geglaubt und sich beunruhigt, er hatte Freud und Leid empfunden, Furcht, Bedrückheit und Schmerz getragen, war himmelhoch jauchzend und zum Tode betrübt gewesen. Das alles war ja nun Asche, aber er hatte doch geliebt, und wenn diese Asche nun auf einem neuen Herde sich wieder zusammenfand, so vermochte sie wenigstens seine Wärme zu erhöhen; in der Mitte aber, obenauf, lohte an einem neuen Brande eine neue Flamme, die höher emporschlug als alle, die ihn früher erwärmt hatten, seine Liebe zu dem Mädchen von Naxos.

Die Vergleiche zwischen den Liebesempfindungen, die ihn eine nach der andern erfüllt hatten, und der, die soeben über ihn gekommen war, führten mit Notwendigkeit zu dem Schlusse, daß ihn diesmal eine neue Art Liebe ergriffen habe, stärker, gebieterischer, sicherlich tiefer; denn sie ließ die innersten Fibern seines Wesens erzittern. War daran nur die Schönheit Akrivias schuld? Diese Schönheit war ja unvergleichlich und höher als alles, was er bislang gesehen oder geträumt hatte; indes sie hätte nicht genügt, das Wunder zu wirken. Man liebt heutzutage einWeib nicht mehr bloß darum, weil es schön ist; das geschah ehedem, im Altertum, in barbarischen Zeiten, aber es kann bei so verfeinerten Geistern, wie sie heute sind, nicht mehr vorkommen. Ja, der stark empfindende David, der Sohn Isais, ließ, um eine Bathseba zu besitzen, von der er nichts gesehen als die schönen Schultern, seinen treusten Diener töten, häufte Sünde auf Sünde und lief Gefahr, sich wegen dieses Liebeshandels auf immer mit Jehova zu überwerfen. Ähnlich Paris, der Sproß des Priamus. Er konnte nicht anders, als sich in das schlimmste Unheil zu stürzen auf die einfache Vorstellung hin, eines Tages das am vollkommensten gebildete Geschöpf der Welt zu besitzen. Er hatte sie niemals gesehen, aber er betete sie im voraus an, in der zuversichtlichen Hoffnung jener Vollkommenheit. Aber, ich wiederhole es, das sind keine Empfindungen von heute, und Norton als großer Zergliederer brauchte nicht lange über den Zustand seines Herzens nachzudenken, um die Überzeugung zu gewinnen, daß die Bewegung, die er darin gewahrte, keineswegs allein dieWirkung des schönen Äußeren Akrivias sei. Woher aber kam sie in aller Welt? Akrivia war ohne Geist, sie zeigte auf allen Gebieten die Unwissenheit eines Säuglings; jeder Gefallsucht bar hatte sie sich ebensowenig bemüht, ihrem Bewunderer zu gefallen, wie ihm zu mißfallen. Wenn er in ihr ein Gefühl erweckt hatte, so war es nur das der Neugier, und ohne Zweifel hatte es in dem Köpfchen der Schönen bei einem Eindruck von der Eigenartigkeit des Fremden im allgemeinen und der englischen Schiffskapitäne im besonderen sein Bewenden gehabt. Und dennoch ahnte Norton noch etwas andres in dieser Natur, die so abwich von der der übrigen Frauen, die er mehr oder weniger geliebt hatte; dieses andre zog ihn an, bezauberte ihn, kurz es machte ihn so verliebt, wie er es geworden war. Lange strengte er sich an, hinter das Geheimnis zu kommen; endlich gelang es ihm, und das machte ihm Ehre.

Die Daseinsbedingungen, unter denen Akrivia lebte, waren genau die, in denen sich die Frauen vor dreitausend Jahren befanden, nämlich Abgeschlossenheit, Liebe und Freundschaft imengsten Kreise und vollkommene Unkenntnis der Welt ringsum; das Ergebnis für das Mädchen von Naxos war dasselbe, das man auch an den edlen Naturen jener fernen Zeiten hatte gewahren können. Ihre angeborenen Eigenschaften waren keineswegs unentwickelt geblieben, aber sie hatten sich nur in einer Richtung entwickelt. Anstatt sich üppig auszubreiten in vielfältigen Zweiglein voller Blätter, Blüten und Früchte, hatten sie gradauf getrieben in starken Ästen, die ohne Knoten und Krümmen himmelan strebten. Sie zeigten Anmut, aber noch mehr Hoheit, sie bargen Reize, aber noch mehr Größe. Die ganze Kraft ihrer Seele war auf ihre nächste Umgebung gerichtet. Keine Neugier hatte sie erregt oder auch nurberührt,darüberhinauszusehen. Nichtsvonihrer Denkkraft war dem entzogen, was sie lieben mußte, und kein innerer Trieb hatte sie dazu gedrängt, den Kreis dessen, was ihr lieb war, zu erweitern. Noch einmal, Akrivia war die Frau der homerischen Zeiten. Sie lebte und webte und fand den Grund ihres Daseins einzig in der Umgebung, in der sie sich bewegte; sie war ausschließlich Tochter und Schwester, bis sie dereinst ebenso völlig Gattin und Mutter werden würde. Selbständigkeit findet sich wenig in solchen Naturen; sie sind der Widerschein ihrer Umgebung; mehr können und wollen sie nicht sein, und ihr Ruhm und ihr Wert, die durchaus nicht gering sind, beruhen eben hierin. Nichts kann weniger dem Frauenideal gleichen, wie es die heutige Gesellschaft ersonnen hat und mehr oder weniger darstellt. Die heutige Frau wünscht, sucht, landet oder scheitert auf ihre eigne Gefahr; sie ist jedenfalls grundverschieden von jener, und man kann beide gar nicht vergleichen, ohne ungerecht zu werden. Wie es aber auch damit stehen mochte, wohl oder übel, so war nun einmal Akrivia, und Norton war sich darüber vollkommen klar. Sie erinnerte ihn nicht ohne Grund an eine der schönen Jungfrauen auf den athenischen Vasen, die an der Quelle der Stadt ihren Krug voll Wasser schöpfen und mit unparteiischem Auge die Helden um ihren Besitz kämpfen und sterben sehen, bis der Ausgang des Kampfes sie dem Sieger weiht.

Dies aber war das Sonderbarste: Norton, ein Weltmann im höchsten Sinne, ausgebildet in der besten und glänzendsten Gesellschaft von Europa, hegte doch im Grunde seines Herzens, ohne daß er aus Mangel an Gelegenheit es je selbst gespürt hatte, einen starken Zug für diese Art weiblicher Naturen. Er erstaunte zuerst darob; denn bis zu diesem Tage war er stets von den entgegengesetzten Eigenschaften angezogen worden. Wenn er freilich genau überlegte, so gab er ohne Umschweife zu, daß seine Schwärmerei niemals von langer Dauer gewesen war; auch hatte der Abbruch der Beziehungen ihm nie so viel Herzeleid gekostet, wie es bei einem gründlich Verliebten hätte der Fall sein müssen. Vielmehr hatte er von der quecksilbernen Lebendigkeit der einen wie von dem sprühenden Geist der andern und sogar von der hingebenden Zärtlichkeit einer dritten einen Nachgeschmack gehabt: eine unglückliche Anlage, die stark nach Undankbarkeit aussah und worüber er sich auch im stillen Vorwürfe gemacht hatte. Nun kam er dazu, eine Art großes Kind zu lieben, das seinen Gewohnheiten, seinen Idealen, seinen Sitten und seiner Gedankenwelt durchaus nicht entsprach, und zwar ohne einen besseren Grund dafür angeben zu können, als daß sie augenscheinlich das vollständige Widerspiel von allem war, was ihn bisher stets nur halb befriedigt hatte; er zog daraus den Schluß, daß sie für ihn geboren sein müsse.

Man muß bedenken, daß dieser Vorgang in einem Engländer sich abspielte, einem Engländer vom Scheitel bis zur Sohle, einem Engländer der Sinnesart wie dem Geblüt nach. Diese normännische Rasse, die unruhigste, ehrgeizigste, streitlustigste und selbstsüchtigste der Welt, ist zu gleicher Zeit am geneigtesten, den Verzicht auf die Güter dieser Welt gutzuheißen und praktisch zu üben. Norton, der in einer sozialenSchicht geboren war, die ihm die höchsten Ansprüche gestattete, hatte sich doch niemals auf die einflußreichen Verbindungen, die seine Jugend beschützten, verlassen. Vielmehr hatte er aus Stolz wie aus natürlichen Tätigkeitstrieb sich genau so viel Unbequemlichkeiten zugemutet, wie nur ein Mensch von niederster Herkunft tun konnte, um möglichst schnell die Stufenleiter seines Berufes zu ersteigen. Er hatte die See befahren und gearbeitet ohne Unterlaß, er hatte ungeheuer viel gelesen und nachgedacht, und wo immer eine Gelegenheit zu handeln sich bot, hatte er sie sich niemals entgehen lassen. Wir haben bereits gesehen, daß er eine poetische Natur besaß; aber niemals hatte er dichterischen Träumen gestattet, sich zwischen ihn und die Tatsachen zu stellen; daher kannte auch seine Umgebung von seiner Seele nur die praktische Seite und verständige ehrenhafte Strenge, aber schließlich die Strenge, die auf den Erfolg sah. Und in diesem Augenblicke, wo er ziemlich jung zu einer hohen Stufe seiner Laufbahn gelangt war, wo ihm alles leicht wurde, überflog er ernüchterten Auges alle diese Dinge und fragte sich, was denn eigentlich der innere Wert der Güter sei, um die er bislang so angestrengt gerungen hatte. Diese Frage hatte er sich seit einigen Monaten bereits hundertmal vorgelegt, und jedesmal, wenn sie wiederkam, fand er es schwerer, darauf zu antworten, oder genauer, er tat einen Schritt weiter zu einer abfälligen Antwort. An dieser Wende seines Daseins führte ihn das Schicksal nach Naxos, wo nichts von dem, wozu er bisher aufgeschaut hatte, vorhanden war, - und es zeigte ihm Akrivia.

Der junge Kommandant gab sich von allem Rechenschaft. Während seines nächtlichen Spazierganges gewahrte er klar, an welchem Punkte seiner Lebensbahn er sich befand. Er sah sich von zwei entgegengesetzt wirkenden Kräften angegriffen. Mit einem Fuß im vergangenen, mit dem andern bereits im folgenden Tage, als Richter und Schiedsmann zwischen beide gestellt, verwandte er alle Kräfte seiner Seele darauf, eine Übereilung in seinen Entschlüssen zu verhindern. "Denn," sagte er sich mit einer gewissen Herbheit, "die Karte, die ich in dieser Partie jetzt ausspielen will, wird von entscheidender Bedeutung sein, und die nächsten Würfe dürfen nicht unter dem gefährlichen Einfluß einerwundervollen Nacht und heftig pochenden Herzens erfolgen."

Er war eben ein scharfdenkender Mann und vollkommen Herr seiner selbst. Zur großen Freude Didos, die auf den Planken des Verdecks nicht gut schlafen konnte und sich längst danach gesehnt hatte, unten auf ihrem Bärenfell zu liegen, ging er endlich schlafen. Des Morgens früh war er wieder auf den Beinen und fand den größten Teil seiner Offiziere beim Frühstück, das sie möglichst beschleunigten, um alsbald ihre Kricketpartie wieder aufzunehmen und ihre sonderbaren Trachten anzulegen, die jeder echte Engländer bei solcher Gelegenheit liebt. Hohe Stiefel oder Schnürschuhe von farbigem Leder, Beinkleider von festem, weißem Trikot oder bunte Kniehosen, die locker die Hüften umkleiden, ein Wams in Rot oder Himmelblau oder vielfarbigen Streifen, das den Hals und die Arme bis zur Schulter frei läßt, bisweilen hirschlederne Handschuhe, eine abenteuerliche Kappe oder ein Strohhut mit Bändern und auf der Schulter das riesige Schlagholz, seine Waffe im Spiel, das ist die Ausrüstung, in der ein Gentleman, der etwas auf sich hält, sich der staunenden Zuschauermenge zeigen muß! Sei es nun auf dem englischen Rasen, oder auf einer Grasebene Australiens, im Angesicht einer chinesischen Pagode, oder auf einer eisigen Fläche in der Nähe des Nordpols, ein Engländer von Ruf und Ansehen, der Kricket spielen geht, kann sich nicht anders ausstaffieren, ohne sich zu blamieren. Norton wünschte seinen Gefährten viel Vergnügen und fuhr eilig in seiner Nußschale ans Ufer, wo er Moncade und Phrangopulo treulich seiner harrend traf, immer noch in ihrer altertümlichen Tracht und ihren hohen weißen Halsbinden. Er tauschte mit diesen ehrenwerten Leuten zwei herzliche Händedrücke, sprang auf das bereitstehende Maultier und schlug mit ihnen wieder den Weg zu dem Schlößchen ein.

Der Tag verlief nicht erfreulich für Norton, obgleich eigentlich kein greifbares Unglück eintrat. Indes die Liebenden haben eine besondere Art an sich, die Ereignisse zu werten. Die Aufnahme des englischen Seemannes durch die Damen war sogar herzlicher gewesen als tags zuvor, aus dem einfachen Grunde, weil er bereits besser bekannt war. Frau Marie hatte zwar ebensowenig gesprochen wie sonst, aber sie hatte sich doch etwas ungezwungener verhalten. Frau Triantaphyllon hatte sich gefreut, ihr jüngstes Kind auf den Armen des Kommandanten zu sehen, wie es mit beiden Händen ihn bei den Haaren packte, ohne sich im mindesten vor ihm zu fürchten. Akrivia hatte sich wieder ganz unbefangen gezeigt, aber Norton - und dies war der Grund seines Unbehagens - hatte scharfsinnig daraus geschlossen, daß er schlechterdings keinen Eindruck auf sie gemacht habe und daß auch anzunehmen sei, daß er niemals auf sie Eindruck machen werden. Das Wort niemals wird sicherlich stets einen hervorragenden Platz in den Wörterbüchern verliebter Leute einnehmen.

So begab sich nichts von Bedeutung; nur wurde Norton mehr und mehr in seiner Ansicht über den Charakter der schönen Naxierin bestärkt, und da in ihm ein heftiger Kampf sich abspielte zwischen dem feingebildeten Menschen, der geliebt zu sein wünschte und doch merkte, daß er es nicht sei, und dem gelangweilten und gleichsam angewiderten Menschen, der gerade Lust hatte zu verbrennen, was er angebetet hatte, und anzubeten, was er noch nicht kannte, kehrte er im Innern zerrissen an Bord zurück. Einerseits war er tief niedergedrückt und schwor, daß Akrivia eine Törin sei ohne Herz und ohne Wärme, andrerseits war er mehr als tags zuvor geneigt, in ihr eine große Seele zu finden, wohl wert, seine Führerin zu einem besseren Leben zu werden, zu einem freieren, vernünftigeren und in Wahrheit männlicheren Leben, als er bishergeführt hatte. Erspazierte nicht mehr auf demVerdeck, sondern legte sich sogleich nieder, aber nur Dido schlief. Da das Kricketspiel allerlei Zwischenfälle gebracht hatte, die einer näheren Beleuchtung wert waren, hörte Norton noch sehr spät lebhafte Auseinandersetzungen in der Offiziersmesse, und er hatte kein Auge zugetan, als der Tag ihn aufstehen hieß. Er gab dem ersten Offizier seine Anweisungen und hörte die verschiedenen üblichen Rapporte, die ihm vielleicht zum erstenmal in seinem Leben vollkommen lächerlich, ja ganz unausstehlich vorkamen. Dann suchte er seine beiden Wirte wieder auf, die mehr als je in ihren unsterblichen schwarzen Röcken steckten.

Der dritte Tag zeichnete sich durch ein Geschehnis von Bedeutung aus. Norton schlug der Gesellschaft eine Lustfahrt auf dem Meere vor: den Anlaß dazu bot der neuerdings in Santorin aufgetauchte Vulkan, den zu sehen man nicht versäumen dürfe. Es war noch nicht lange her, daß diese gewaltige Naturerscheinung begonnen hatte oder vielmehr wiederbegonnen hatte, und der Kommandant rühmte das Wunderbare dieses Schauspiels, um bei den Bewohnerinnen des Schlößchens einige Neugier zu erwecken. Frau Marie schüttelte geringschätzig den Kopf und war unerschütterlich in ihrem Entschlusse, sich nicht von der Stelle zu rühren; Frau Triantaphyllon erklärte, daß sie gern einmal sehen würde, wie die englische Korvette eingerichtet wäre; das übrige ließ sie kühl. Akrivia verriet etwas mehr Leben; es war freilich, wie bei ihrer Schwägerin, vor allem die Korvette, die sie reizte, aber auch die Reise hatte ihren Beifall. Der Vulkan allerdings rührte sie wenig; ein Berg in Flammen schien ihr eben ein reiner Unsinn, und sie konnte sich nichts dabei denken. Die beiden Alten gingen weit lebhafter auf seinen Vorschlag ein und nahmen mit Vergnügen seine Einladung an. Nach langem Hin- und Herreden kam man überein, daß die schöne Akrivia die Kabine des Kommandanten beziehen sollte, während ihr Vater und ihr Pate den Salon nähmen; Frau Triantaphyllon sollte ihre Schwägerin an Bord begleiten und auf der Aurora frühstücken, wo man ihr alles zeigen würde; dann sollte sie auf das Landgut zurückkehren und die Korvette ihre Fahrt antreten, deren Dauer auf höchstens drei Tage festgesetzt wurde.

Die Unterhaltung über diesen Gegenstand nahm kein Ende. Die naivsten und kindlichsten Fragen wurden gestellt und beantwortet, und alles war in heiterster Stimmung; dabei hatte Norton das zweifelhafte Vergnügen, aufs neue zu bemerken, daß er Akrivien auch nicht die flüchtigste Erregung verursachte.

Am folgenden Tage verliefen die Dinge so, wie man es am Abend festgesetzt hatte. Um sechs Uhr morgens war die naxische Familie auf dem Verdeck des Schiffes. Man nahm ein kleines Frühstück ein und zeigte den Besuchern das Fahrzeug vom Kiel zum Mast. Frau Triantaphyllon fand dies Schaustück ganz außergewöhnlich; für ewige Zeiten blieb davon in ihrem Kopfe eine wüste Wirrnis von Tauen, Masten, Blechplatten, Messingstangen und schwarzem Qualm. Was ihr jedoch am meisten gefiel, das war die große Kanone auf dem Achterdeck. Aber man konnte sie nicht dazu bringen, sie anzufassen, obwohl sie es für ihr Leben gern getan hätte. Als der Augenblick gekommen war, wo sie an Land zurückkehren sollte, hatte sie sich schon zwei Stunden lang heftig danach gesehnt; denn es war das erstemal, daß sie sich von ihren Kindern so lange entfernt hatte, und sie war über die Maßen unruhig.Nichtsdestoweniger konnte sie sich nicht verhehlen, daß es sie fast ebensosehr beunruhigte, was ihren Verwandten bei ihrem unerhörten Abenteuer begegnen könne, und bevor sie die Korvette verließ, umschlang sie Akrivien fest und innig, indem sie in paar bittre, aber stille Tränen an ihrem Halse weinte. Dann ruderte man sie ans Land, und die Aurora lichtete ihre Anker und setzte sich in Bewegung. Langsam verließ sie den Hafen und gewann das hohe Meer.

Je mehr man sich Paros näherte und je mehr Akrivia auf das, was um sie vorging, acht gab und aus ihrer kühlen Ruhe herauskam, mit desto größerer Befriedigung gewahrte Norton, daß sie keineswegs eine so reglose Unempfindlichkeit besaß, wie es bis dahin den Anschein gehabt hatte. Was man auf der See erblickte und was sich an Bord zutrug, ließ ihre Augen erstrahlen. Henry beobachtete sie, wie ein Gärtner der Entwicklung einer Knospe folgt, die sich öffnet und zur Blume wird. Sie gab sich augenscheinlich Mühe, sich über die Leute in ihrer Umgebung ein Urteil zu bilden; und diese wiederum taten ihr Bestes, um von einer so entzückenden Frau eines Blickes gewürdigt zu werden; denn man kann sich denken, daß das Offizierkorps der Aurora von ihr im höchsten Grade entzückt war. Der erste Offizier prunkte mit der kraftvollen Schönheit seines Brustkorbs und ließ sein weißes Beinkleid leuchten, nicht minder die goldenen Knöpfchen seines untadelig gefältelten Vorhemds und seine goldene Uhrkette. Der wachhabende Offizier, obgleich vom Dienste gefesselt, fand doch gelegentlich einen Augenblick Zeit, eine sinnreiche Bemerkung anzubringen, wobei er seinem roten Backenbart eine verführerische Drehung zu geben wußte. Die Masters beeilten sich, Polsterstühle jeder Form auf Deck zu schaffen, und bereiteten kunstreiche Getränke mit den sonderbarsten Zutaten. Nur der Doktor, dessen Ruhe infolge seiner sechzig Jahre unerschüttert blieb, versuchte von Phrangopulo einige Belehrungen über die Pflanzenwelt von Naxos zu erhalten. Er bediente sich dabei des bißchen Griechisch, das er noch von der Schule her wußte, und handhabte es in einer Weise, die dem Demosthenes Nervenzufälle verursacht hätte, wenn dieser große Redner es hätte hören können. Jedenfalls beschrieb ihm Phrangopulo einen Baum, während sein gelehrtes Gegenüber des Glaubens war, eine Abhandlung über ein winziges Grashälmchen zu vernehmen. Moncade stand in Staunen versunken an der Schraube, die fünfundsiebzig Drehungen in der Minute machte. Was Akrivia am meisten fesselte, waren die Kadetten, besonders der jüngste. Sie waren in siedender Aufregung über ihre Gegenwart; da aber die Schiffsordnung ihnen nicht gestattete, sich aufs Achterdeck zu wagen, so begnügten sie sich, das junge Mädchen von ferne mit den Augen zu verschlingen. Sie selbst tat keine Frage; aber Norton merkte doch, daß sie alles beobachtete, und er freute sich, sie so zu sehen.

Als man bei Antiparos war, eingeengt in dem Kanal zwischen der Insel und einem kleinen, mit Gestrüpp bewachsenen Inselchen, streckte Akrivia mit Begeisterung ihren Arm gegen die großen Felsen der Küste aus und sagte zu Henry: "Das ist Marmor!" Es war Marmor, weißer Marmor, und der Eindruck, den er macht, ist zauberisch. Das Meer, die Winde, der Regen und die Stürme haben vergeblich diese Riesenmassen göttlichen Gesteins mit feuchtem Hauch beschmutzt; sie bewahren ihren vollen Adel und ihre volle Schönheit und breiten sie prächtig längs dieser Gestade aus. Einige Reisende haben von Genua gesagt, daß schon allein der Umstand, daß diese Stadt aus Marmor und sogar aus unbearbeitetem Marmor gebaut ist, ihr ein Recht auf den Beinamen: die Stolze gibt; was soll man nun von einer Insel sagen, deren Felsen aus Marmor bestehen, und zwar aus einem Marmor, aus dem einst die Venus und so viele Tausende von Gottheiten erstanden sind, vor denen sich die Welt in Bewunderung beugt? Akrivia zergliederte ihre Empfindungen nicht und hätte in ihrem kleinen unwissenden Köpfchen dazu nicht die Hilfsmittel gefunden; aber sie fühlte gleichsam durch magnetische Gewalt und, wie Henry sich sagte, vermöge einer gewissen Verwandtschaft, die zwischen allen Erscheinungen der Schönheit besteht, die Nähe und den Eindruck der vor ihren Augen ausgebreiteten Herrlichkeit.

Man beschloß zu landen und einen Spaziergang auf der Insel zu machen, um erst in der Nacht nach Santorin zu fahren.

Ein jeder war munter und aufgeräumt. Es ist ja ohne Zweifel ein Vergnügen, mit einer schönen Frau auf See zu fahren, aber noch viel hübscher ist es, mit ihr auf dem festen Lande zu spazieren. Das Gesicht Akrivias war von der Seeluft, der ungewohnten Lebendigkeit der Unterhaltung, dem Anblick so vieler nie gesehener Dinge lebhaft gerötet, und mit herzlichem Lachen nahm sie den freudigen Eifer der Offiziere auf, ihr ins Boot zu helfen. Je mehr man sich dem Ufer näherte, desto mehr sah man es so, wie es war, das heißt ein wenig des Zaubers entkleidet, den die Reinheit der Luft und die schönen Farben, die sie hervorruft, ihm in der Ferne verleihen. Es war jetzt rauh, steinig und öde und zeigte als einzigen Pflanzenwuchs nur niedres Gebüsch und hier und da einen verkrüppelten Baum. Als man den Strand erreicht hatte, schickte Norton mehrere Kadetten auf Kundschaft aus, und nach kürzester Frist kam einer von diesen Knaben, Charles Scott, ein Schotte, im Laufschritt zurück, um seinem Herrn zu melden, daß hinter einem kleinen Hügel, ungefähr dreihundert Schritt vom Strande entfernt, ein ziemlich großes Gehöft zu sehen sei. Die Karawane nahm sogleich die Richtung dorthin, und Phrangopulo setzte nach kurzer Rücksprache mit Moncade auseinander, was für ein Mensch der Eigentümer des Gutes sei, dem man sich näherte.

Fünf oder sechs Jahre zuvor war ein Grieche von den ionischen Inseln, der Graf Spiridon Mella, hieher gekommen, um Wein zu pflanzen und zu veredeln, in der Absicht den Wettbewerb mit den Erzeugnissen von Santorin zu eröffnen. Ob er Erfolg hatte oder nicht, das wußte niemand, jedenfalls stellte er in diesem friedlichen Winkel die Allgegenwart und Allrührigkeit des europäischen Unternehmungsgeistes dar. In früherer Zeit hatte er vieles andre dargestellt. In seiner Jugend hatte er in Rußland gedient und auf der Rangliste eines Regiments gestanden; er hatte sogar als Adjutant eines Generals in der feinen Welt von Moskau von sich reden gemacht. Dann hatte er unter Verzicht auf seine Epauletten seinen Weg nach Konstantinopel genommen, wo die Politik ihn in ihre Kreise zog. Gepriesen von den einen, verlästert von den andern, hatte er sich mit einigen Schwierigkeiten durch ein Labyrinth von gewundenen Pfaden hindurchgeschlängelt und lange Jahre ein bewegtes Leben geführt, dann hatte man ihn in Alexandria Handel treiben sehen. Dort hatte er mit Geschäftsleuten Beziehungen angeknüpft, die ihn nach Indien führten. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der Ertrag der Reise geringfügig gewesen, denn Graf Mella war in ziemlich bescheidenem Aufzuge heimgekehrt und hatte sich im Peloponnes niedergelassen, wo er mehrere Jahre hindurch blieb. Inzwischen war er alt geworden. Siebzig Jahre ungefähr raunten in seine Ohren den Rat, vernünftig zu werden. Er befolgte ihn, indem er eine ganz junge Frau heiratete, und nach zweijähriger Ehe hatte er es unternommen, in Antiparos das Glück noch einmal zu versuchen. So war der ionische Graf nach der Reihe russischer Offizier, türkischer oder griechischer Diplomat, ägyptischer Händler und indischer Makler gewesen und befand sich nun als Winzer auf den Zykladen. Man muß in der Tat bei dieser Menschenart, die im Orient keineswegs selten ist, viel Betriebsamkeit, viel Geist, viel Geschmeidigkeit und einen erstaunlichen Gleichmut in bösen Schicksalen anerkennen.

Norton sah von fern den Insulaner zum Empfang der Gäste,die ihn besuchen wollten, herankommen; wenigstens setzte er voraus, und mit Recht, daß die Beschreibung der beiden Naxier auf der ganzen Insel Antiparos nur für jene Gestalt passen könne, die in diesem Augenblicke am Ende des Pfades daherschritt. Der Graf war ein Mann von mittlerem Wuchse, ärmlich, aber nicht anspruchslos gekleidet; auch schien er keineswegs das vorgeschrittene Alter zu haben, das Phrangopulo ihm zuschrieb. Seine Gastlichkeit ließ nichts zu wünschen übrig. Er führte das von der Aurora gelandete Häuflein zu seinem Hause, das mitten zwischen den Felsen stand, und ließ es zunächst vier unglücklich kleine Bäume von sechs Fuß Höhe bewundern, die in einer Reihe vor der Vorderseite des Hauses angepflanzt waren. Es war nicht zu zweifeln, daß sie eines Tages groß werden und selbst Blätter bekommen mußten, wenn der Wind ihnen das Leben ließ. Mit geheimnisvoller und stolzzufriedener Miene wies er ihnen ferner ein halb Dutzend schrecklich verstümmelter Marmorbruchstücke, die beim Bau seines Hauses ausgegraben waren; dabei gab er eine lange Beschreibung der antiken Meisterwerke, auf die er, wie er fest glaubte, eines Tages die Hand legen werde. Einstweilen allerdings besaß er nur ein paar elende Trümmer aus schlechtester Zeit. Die berühmte Entdeckung des Standbildes, das man 1821 auf der Insel Milo fand, ist die Lieblingslegende der Zykladen geworden, und es ist im ganzen Ägäischen Meere keine noch so kleine Klippe, auf der die Einwohner nicht von der demnächst bevorstehenden Ausgrabung irgendeiner Venus träumen.

Die Insel Antiparos ist nicht groß, sie besitzt jedoch eine gewisse Anzahl Schifferhütten, ja sie trägt sogar ein Dorf; aber ihr Hauptreiz ist von andrer Art. Graf Mella riet seinen Gästen, sie möchten doch ja nicht die schöne Gelegenheit versäumen, die berühmte Grotte11) auf dem Gipfel der Insel zu besuchen, und da alle Offiziere für das Unternehmen Feuer und Flamme waren, gab Norton, der selbst beglückt war, mit Akrivia über Land zu gehen, mit Freuden dem allgemeinen Wunsche nach. Man ließ vom Schiffe Mannschaften zur Verstärkung holen, die Taue, Strickleitern und Fackeln mitbrachten, und setzte sich in Bewegung.

Keine griechische Insel ist so gänzlich pflanzenlos, daß sie nicht einiges Grün im Innern aufwiese, und wie bei schönen Menschen der geringste Schmuck genügt, so gibt das kleinste Gebüsch einem Winkel dieser Landschaft sofort eine unvergleichliche Anmut. Die von den Wanderern durchschrittene Gegend war ausnehmend hügelig; man ging ständig über große Massen weißen Marmors, hier mit Schwarz durchsetzt, dort mit einem rostroten Farbenton, der sich bis zum lebhaftesten Orange steigerte. Dornensträucher wanden in den Ecken, wo dürftig Pflanzenerde sich gebildet hatte, ihre grauen Zweige, an denen kleine, spitze, mattgefärbte Blätter saßen. Längs der Schluchten, in denen des Winters Gießbäche wild und zornig daherrauschten, die aber jetzt ohne einen Tropfen Wasser standen, erhoben sich in dichten Gruppen schöne, üppige Lorbeerbäume; freilich zeigte sich diese Pracht nur, wenn man mit einiger Mühe danach suchte - ein schönes Sinnbild des Ruhmes, man findet auch ihn nicht auf den bequemen Pfaden. Charles Scott, der schottische Kadett, fand gleichwohl eine Möglichkeit, zwei Sträuße davon zu pflükken. Den ersten überreichte er, bis über die Ohren errötend, Akrivien beim Durchschreiten einer Art kleinen Hohlweges, wo er glaubte, daß es niemand sähe. Den zweiten fand sie des Abends an ihrem Bette; der Schlingel hatte ihn Thompson mit der haarsträubenden Lüge übergeben, daß die junge Dame ihn selbst gepflückt hätte und er es nur übernommen habe, ihn zu tragen. So hatte Akrivia an diesem Tage in dem Offizierskorps der Aurora zwei Verehrer und eine Fülle von Bewunderern. Norton merkte wohl, daß er einen Nebenbuhler hatte; aber er beunruhigte sich darüber nicht, und statt es übel zu nehmen, fühlte er nur seine Neigung für den Verwegenen wachsen, der schon von jeher sein Liebling gewesen war. Die Mutter Charles Scotts, die Witwe eines Geistlichen ohne jedes Vermögen, besaß zwei Kinder, eine ältere Tochter Effie, ungefähr in dem Alter Akrivias, und Charles. Um diesen zu erziehen und ihm seinen Eintritt in die Marine zu ermöglichen, waren große Anstrengungen nötig gewesen und eine lange rührende Ergebung in unzählige Entbehrungen. Charles bemerkte dies nicht nur mit den Augen, er empfand es auch im innersten Herzen. Für seine Mutter und Effie zu leben, war deshalb die Triebfeder seiner Seele und ein ihm stets gegenwärtiger Lebenszweck. Er hatte keinen wichtigeren Gedanken, als daß es ihm glücken möchte, diesen beiden geliebten Wesen das Dasein so schön als möglich zu gestalten. Jedes schöne Schloß prüfte er mit kritischem Auge und nahm sich vor, es zu kaufen, wenn es der Mühe wert wäre, um es einst seinen Abgöttern zur Wohnung zu geben. Er beabsichtigte nicht etwa, ihnen nur seine Schuld zurückzuzahlen, er wollte ihnen all sein Hab und Gut schenken. Er selbst war entschlossen, nie zu heiraten, um sich ganz den Kindern Effies widmen zu können, wenn sie das jüngste, schönste und reichste Mitglied des Oberhauses geheiratet haben würde. Akrivia hatte tatsächlich auf ihn einen Eindruck gemacht, der ihn ganz aus dem Häuschen brachte; aber er fand doch, daß die junge Naxierin Effie ähnlich sähe. Norton ahnte dies und sagte zu ihm: "Scott, finden Sie nicht, daß diese junge Dame an Effie erinnert?"

"Zu Befehl, Herr Kommandant," antwortete der Kadett, wobei er bis über die Ohren rot wurde.

Die Sache wäre ganz gut gegangen, wenn nicht ein andrer Kadett sich einige dreiste Späße über die Verliebtheit seines Kameraden erlaubt hätte. Das führte zu einer regelrechten Boxerei, bei der Charles der Angreifer war; er kämpfte mit solcher Wut, daß es schließlich nötig wurde, den unglücklichen Gegner seinen Fäusten zu entreißen. Der Arme hatte schwarzunterlaufene Beulen an beiden Augen, und sein Mund blutete. Der Doktor, der einzige Vertraute der beiden bei diesem Streich, den man dem Ersten Offizier wohl zu verbergen wußte, bemerkte beim Waschen des Opfers geistreich: "Da sieht man's; überall, wo Venus sich sehen läßt, ist Mars nicht fern." Dieser alte Doktor war wirklich ein verdammt klassisch gebildeter Mann; aber er erzählte darum doch ganz unbefangen dem schrecklichen Ersten Offizier, daß dieser Unglücksmensch George Sharp so ungeschickt gewesen sei, gehörig zwischen die Steine zu fallen.

Inzwischen war man auf dem höchsten Punkte der Insel angelangt, und der Eingang der Höhle, der schon vom Fuße der letzten Kuppe sichtbar gewesen war, zeigte sich in seiner ganzen Erhabenheit den Blicken der Besucher, die unter seiner Wölbung versammelt waren. Es ist eine ungeheure Kuppel, von der Natur aus dem festen Marmor ausgehöhlt. Große Tiefe scheint sie nicht zu haben, aber es scheint nur so, weil sie so hoch ist. Man legte Seile zurecht, zündete Fackeln an, und die Matrosen, die geeignetsten Leute der Welt für derartige Unternehmungen, machten sich daran, den Abstieg unter der sachverständigen Leitung eines Leutnants, der die Örtlichkeit rasch erkundet hatte, ins Werk zu setzen.

Man kann zur Not begreifen, daß die Geologen oder überhauptdie Naturforscher, Leute, dieauf diesem Gebiete etwas verstehen wollen und von Haus aus geschickt sind, in dunkeln Löchern Aufklärungen zu finden, eine Berechtigung haben, in so wilde Abgründe hinabzuklettern; aber andre Sterbliche haben dort nichts zu suchen. Die Gelehrten denken dort irgendeine wissenschaftliche Ausbeute zu gewinnen; und wenn sie dabei den Hals oder irgendein Glied brechen, so machen sie sich darum noch nicht unbedingt lächerlich. Jedoch von ihren ungelehrten Nachahmern kann man dies nicht behaupten. Um in die Höhle von Antiparos zu gelangen, muß man wie ein Fuchs durch eins der engen Schlupflöcher hinabkriechen, die sich im Hintergrunde, zur Rechten und zur Linken des Haupteingangs öffnen. Man tritt zunächst in schwarze Finsternis, ganz zusammengekrümmt, um sich nicht den Kopf an dem überhängenden Felsen zu zerstoßen. In der lächerlichsten Stellung also rückt man mit Mühe vorwärts auf feuchtem, glitschigem Gestein, bis man ein Tauende erwischt. Daran klammert man sich krampfhaft und läßt sich hinabgleiten. Das geht leidlich gut, solange der Boden, auf dem man sich bewegt, schräg abfällt; doch plötzlich bildet er einen stark einspringenden Winkel. Nun hält man sich mit der freien Hand, die nicht das Seil umklammert, an den Felsvorsprüngen fest, ängstlich bemüht, nicht zu fallen; denn man weiß ja nicht, wohin man dabei geraten würde, da man ja nicht die Hand vor Augen sieht. Das wäre der erste Akt. Dies Vergnügen hört auf, indem man festen Boden unter seinen Füßen spürt. Aber man freue sich nicht zu früh; denn man ist nur auf einem schmalen Gesimse, und es ist ratsam, es möglichst schnell zu verlassen. Es beginnt der zweite Akt. Man muß seinen Weg mit der Fackel nah beleuchten, wobei man sich gegen die Wand stützt, an der man soeben herabgeglitten ist; so kommt man an eine Felsspalte, wo eine Strickleiter befestigt ist. Man sieht davon das obere Ende, aber weiter nichts. Denn da unten ist schwarze, fürchterliche Öde. Keine Erleuchtung würde mehr davon erkennen lassen. Denn man hat noch nicht Zeit gehabt, die Pupillenweite, die wenige Minuten zuvor noch auf die Sonnenstrahlen eingestellt war, dem Dunkel anzupassen.

Man ist also auf der Strickleiter und klettert mit unwillkürlicher Vorsicht hinab. Die Steinmauer, an der man sich hinunterarbeitet, ist eben schräg genug, um die Strickleiter aufliegen zu lassen, und wenn die Hände schon nicht viel Halt haben, so hat die Fußspitze noch weniger; und doch ist es sehr geraten, nicht loszulassen oder fehlzutreten; denn man hat keine Ahnung, wie tief man fallen würde und was für Unannehmlichkeiten den unten Ankommenden in Empfang nehmen. Man schätzt die Sache erst, wenn man ohne Zwischenfall in die Kluft hinabgetaucht ist. Man steht dann auf einer Art von sehr enger Plattform; das durch die Felsen sickernde Wasser rieselt um uns herum; es ist kalt, wie in einem Keller, und die Feuchtigkeit dringt bis auf die Haut.

Mehr und mehr fängt man an, sich unbehaglich zu fühlen; die Luft ist dumpf und mit Dünsten beschwert. Doch die Fackeln, die hie und da flammen, und deine inzwischen an die Finsternis gewöhnten Augen lassen dich schnell genug erkennen, daß du noch nicht am Ende bist. Du bückst dich, du ergreifst ein andres Seil, das an einen Felsvorsprung gebunden ist, und von neuem läßt du dich hinab. Jetzt bis du wirklich mit dieserArt der Beförderung, so durch die Luft zu schweben, am Ende. Man ist auf einem sehr abschüssigen Gelände angelangt, das einzig und allein aus scharfen, weit herausspringenden Kanten besteht, das heißt, man hat ein Trümmerfeld mächtiger, scharfgeschnittener Marmorblöcke zu überschreiten, die von dem Gewölbe herabgestürzt sind und auf deren Kanten man nun im Gleichgewicht einhergehen soll. Man wird kreuzlahm dabei, und so kommt man auf den tiefsten Grund der Höhle. Da erhebt man das Haupt, und man erhält den würdigen Lohn für die Torheit so vieler Anstrengungen: man sieht rein gar nichts, das die Mühe lohnte, auch nur drei Schritte darum zu tun.

Die ziemlich hohe Erhebung des Gewölbes macht doch keinen rechten Eindruck, zunächst weil man durch eben diese Örtlichkeit herabgestiegen ist und ihr die Leiden des Abstiegs nachträgt; ein solcher Verdruß ertötet von Grund aus jene Hingabe, ohne die es keine Bewunderung gibt. Ferner aber vermag das Auge bequem stufenweise bis zur äußersten Höhe zu steigen, indem es an den nach und nach höher werdenden Aufhäufungen von Trümmern und den vielfältigen Windungen der brüchigen und völlig verhältnislosen Gesimse emporklettert. Der Raum, den dieses schlecht angelegte Kuppeldach in sich schließt, mag ja vielleicht groß sein, aber er sieht nicht groß aus; er ist nämlich in der Mitte durch gar zu viel herabgestürzte Felsblöcke unterbrochen, die eine Fülle von ziemlich kleinen Kämmerchen bilden, und längs des Felsens haben wieder die hier und da gefahrdrohend herabhängenden Tropfsteine eine Reihe von besonderen Abteilen gebildet, genau den Binnenkellern gleichend, in denen man die kostbaren Weine hegt. Was die Tropfsteine selber anbelangt, so sind das die bekannt häßlichen Gestaltungen, in welche die Liebhaber der Naturwunder überall vernarrt sind: ein Abbild von übergelaufenem Apfelzucker, der außen an der Formgeronnen ist;etwas Flüssiges, Formloses, Linkisches, breit an unpassender Stelle und wieder schmal zur Unzeit und dazu noch mit dem Anspruch, tränenreiche Rührung zu erwecken. Das einzige, was den Beschauer in seinem Verdruß etwas tröstet, ist der Umstand, daß er Inschriften lesen kann, die freilich nur allzu beredt den natürlichen Unverstand des Menschengeschlechtes verkünden. Eine vor allen ist bemerkenswert. Im Hintergrunde eines abgelegenen Winkels auf der Rückseite eines der dicksten Tropfsteine prangt folgender Satz: "Helene de Tascher, ein unvergleichliches Weib! Der Schatz des Marquis von Chabert! - 1775." Der arme Marquis muß sehr schwer mit einer unwiderstehlichen natürlichen Schwatzhaftigkeit zu kämpfen gehabt haben, daß er sich sogar gezwungen sah, ihr auf dem Grunde der Höhle von Antiparos nachzugeben. Es gibt wenig Geschichten von erfolgloser Tapferkeit, die uns mehr rühren.

Als die englischen Offiziere hinlänglich gesehen hatten, daß da nichts zu sehen war, stieg man wieder hinauf, und nebenbei gesagt, wenn es nicht bequem ist herabzuklettern, so ist das umgekehrte Verfahren in der Regel noch mühevoller. Glücklicherweise beschränkten sich die Unfälle auf ein paar Stürze ohne ernste Folgen und etliche zerrissene Beinkleider.

Norton hatte geglaubt, einige Augenblicke opfern zu müssen, die er viel besser, am Eingang der Höhle sitzend, mit Akrivien hätte verplaudern können. Denn er hielt es für seine Pflicht, seine Mannschaft und seine Gäste nicht in solcher Gefahr allein zu lassen. Ein klein wenig wurde er dafür entschädigt durch den schrecklichen Eindruck, den die Berichte des Grafen Mella von den ungeheurenSchwierigkeitenseines Unternehmes auf Akrivias Einbildungskraft gemacht hatten. Der alte Edelmann von Korfu nahm den Mund recht voll. Er beendigte gerade die Schilderung von dem völligen Untergange von zweiundzwanzig Personen, worunter ein türkischer Pascha, durch sich ablösende Felsen des Gewölbes, als Norton mit seiner Schar wieder erschien. Natürlich stand er nun als Held da und wurde mit um so größerer Begeisterung empfangen, als Akrivia, die den Untergang des Offizierskorps, des Kommandanten an der Spitze, für eine ausgemachte Sache hielt, sich bereits darum sorgte, wie sie wieder nach Naxos zurückkommen sollte. Sie warso überschwenglich in ihrer Freude, daß Norton, den wahren Grund nicht ahnend, in sich eine Hoffnung aufkeimen fühlte, und da er schon ohne dies geneigt war, seine Fortschritte in der schlummernden Seele seines Dornröschens zu überschätzen, so begann er ein wenig seine ruhige Klarheit zu verlieren. Von diesem Augenblicke an hielt er es für möglich, vor den Augen Akrivias Gnade zu finden.

Die unmittelbare Wirkung seiner Einbildung war ein Gefühl der Gehobenheit. Er ward mitteilsam und liebenswürdig; indes nicht immer ist es ein Glück, glücklich zu sein. Man tritt dabei aus seiner Zurückhaltung heraus und verabsäumt gar zu leicht die Vorsichtsmaßregeln, die man auf dem Dornenpfade der Welt nötig hat. Wie dem aber sei, Henry war fortan dazu aufgelegt, alle Dinge im glänzendsten Lichte zu sehen. Hat man einmal derart empfunden, so erinnert man sich noch lange Zeit nach jenem Augenblick an die kleinsten Einzelheiten, die geringsten Wechselfälle, die unwichtigsten Tatsachen, als wären es die wundervollsten Erscheinungen, die das Leben je habe bieten können.

Der Besuch der Höhle hatte ziemlich viel Zeit weggenommen; man mußte deshalb, sobald man an der Küste angelangt war, sich schleunigst von dem Grafen Mella verabschieden und an Bord zurückkehren. Hier fand man ein üppiges Mahl bereit, so üppig, als es der Offizierskoch hatte herstellen können. Auf Bitten des Offizierskorps hatte nämlich Norton eingewilligt, für seine Gäste und sich selbst die Gastfreundschaft der Offiziersmesse anzunehmen.

Die Geistesverfassung der Marineoffiziere erfährt durch das Leben an Bord eine zwiefache Beeinflussung. In den ersten Dienstjahren wird die Langeweile der langen, einförmigen Tage durch die Liebe zum Beruf glücklich überwunden. Indes zuweilen macht sie sich doch recht lästig, und dann wird alles, was den gewöhnlichen Gang der Dinge verändert, freudig begrüßt und mit Begeisterung genossen. In späteren Jahren ist die Liebe zum Beruf nicht mehr vorhanden; der Offizier dient nur weiter, weil die Notwendigkeit ihn dazu zwingt; er hat die Sache satt, ist aber in sein Schicksal ergeben, und in diesem beklagenswerten Seelenzustande, der nichts andres ist, als die Niedergeschlagenheit einer hoffnungslosen Knechtschaft, ist der einzige Trost und die einzige Erleichterung gerade jene verdrießliche Einförmigkeit, die am Anfang das Widerwärtige an dem Berufe war. Aus diesem Grunde haben die älteren Marineoffiziere eine ausgeprägte Abneigung gegen alles, was den regelmäßigen Verlauf des Daseins auf dem Schiffe umgestaltet oder unterbricht. Sie verwünschen jeden Aufenthalt von Fremden und ganz besonders von Frauen in ihrer Mitte. Das stört den Frieden der Höhle und nötigt, wohl oder übel, irgend etwas zu denken. Infolge eines seltenen Glücksfalls gab es keine alten Offiziere an Bord der Aurora, so daß alle widerstrebenden Regungen von der Art der eben beschriebenen ausgeschlossen waren. Im Gegenteil, der Kadett Charles Scott war keineswegs der einzige, der heimlich für Akrivias Vorzüge erglühte und schmachtende Seufzer ausstieß. Man behauptete später sogar, daß der alte Doktor in der Nacht, die diesem denkwürdigen Tage folgte, geträumt habe, er fände eine neue Pflanze am Strande von Milo. Dabei ließ sich eine himmlische Stimme vernehmen, die ihm befahl, die neue Entdeckung der Aufmerksamkeit der Botaniker unter dem Namen 'Acrivia incomparabilis' zu empfehlen. Mit einem Worte, das Schiff Ihrer Britannischen Majestät schwamm auf den Wassern ganz durchduftet von den zartesten und wonnigsten Empfindungen.

Sei es nun in Erwiderung der allgemeinen Zuneigung, sei es, daß sie sich allmählich behaglicher fühlte, Akrivia zeigte jeden Augenblick in den Augen oder der Einbildung Nortons mehr Reize und höheren Wert. Er fand einen Zug von Zartheit und Schwärmerei in allem, was sie aussprach. Sie wußte nicht viel, oder genauer gesagt, sie wußte nichts, aber sie empfand fein und richtig, und was sie sagte, war voll von eignen Beobachtungen, die zwar bisweilen ein Lächeln herausforderten, aber ungemein anmuteten. Sie gab sich nicht mit Kleinigkeiten ab; sie faßte vielmehr sofort die Hauptsachen ins Auge, und obgleich sie diese nicht immer begriff, so erregten sie doch ihr ganzes Interesse. Norton verglich sie mehr und mehr den edlen Töchtern des Priamus, die die Aufgabe, ein Pferd zur Tränke zu führen oder Wein und Wasser in den Krügen zu mischen, nicht im mindesten erniedrigte. Diese Neigung des Mädchens von Naxos, für schöne Dinge oder solche, die ihr so schienen, zu schwärmen, bekam am nächsten Abend eine natürliche Gelegenheit sich zu betätigen. Die Nacht hatte sich herabgesenkt, die verhältnismäßig dunkle Luft, wenn auch durchflutet von dem allgemeinen Sternenglanz, breitete über das Meer einen blauen Duft von sanfter Gleichförmigkeit, da sah man plötzlich am Horizont einen blutroten Schein aufleuchten. "Das ist der Vulkan von Santorin." 12)  sagte Norton, indem er den Arm ausstreckte, und er sah das junge Mädchen an, begierig auf den Eindruck, der sich in diesem reizenden Gesichte malen würde.

Seine Hoffnung ward nicht getäuscht. Die Wirkung war unmittelbar und erhaben. Ein tiefes Staunen zeigte sich in den schönen Zügen, die er fast leidenschaftlich beobachtete; Akrivia schien zu wachsen vor dem Wunder, das sich ihren Blicken darbot. Nichts Kleinliches, keine niedrige Neugier, kein ungeschickter Versuch einer künstlichen Ereiferung, kein Ausruf einer nichtigen Bewunderung entfuhr diesen schönen festverschlossenen Lippen. Alles war einfach und frei, wie es der Ursache der Bewegung würdig war. Man konnte auch in der Tat nichts Schöneres sehen als das Schauspiel, das sich alsbald in seiner vollen Pracht vor den Augen der von der Aurora Ausschauenden entfaltete.

Das Dunkel der Nacht machte es fast unmöglich, das Land Santorins und der benachbarten Inselchen zu erkennen, wenigstens umhüllte sie ihr Schleier so dicht, daß sie sich inmitten der Fluten nur eben leicht abzeichneten, und auf diesem Hintergrunde von der gleichen sanftdunklen Tönung erhob sich majestätisch, einer Göttererscheinung vergleichbar, umhüllt von einer helldurchleuchteten Wolke, der ungeheure Kegel eines erglühenden Berges. Auf seinen mächtigen Abhängen lief in großen Bächen feurige Lava herab. Es war wie ein Purpurmantel, der unablässig neue Falten schlug; näherte sich der entflammte Erdstoff dem Fuße des Berges, so teilte er sich in Fransen, die seidengleich schimmerten, und seine Farbe ging wechselnd vom schreiendsten Rot in die verschiedenen Töne von Orange, Gelb und Zinnober über. Einige von diesen schmalen Streifen zogen sich viel weiter herab als die übrigen, sie erreichten sogar den Fuß des Berges und versanken ins Meer; doch erloschen sie nicht, ohne Millionen von Funken aufsprühen zu lassen, ein fortwährendes Feuerwerk, das wunderbar mit den ständigen Ausbrüchen des Gipfels zusammenstimmte. Hier wurden alle Augenblicke ungeheure, funkelnde Garben ausgeworfen und ließen Wolken finsteren Rauches aufwirbeln, der eine kurze Zeit wunderlich erleuchtet war und dann allmählichwiederinsDunkel zurücksank, um sich bald darauf von neuem zu erhellen. Ein schreckliches, unausgesetztes Brüllen diente als Grundbaß für das zischende Knallen, welches die reichlichen Entladungen des ewig quellenden Glühstoffes begleitete. Das erstere ging vom Fuße des Berges aus, von seinen verborgenen Wurzeln, das andere schien in seinem Gipfel zu tosen. Dieses ganze Schauspiel war furchtbar wie die Macht des Zeus; aber so mächtig, so groß, so überwältigend, so tiefernst, daß es das Gemüt mehr zur Verehrung stimmte als zur Furcht. Akrivia brachte die Hälfte der Nacht an der Rehling des Verdecks zu, weil sie sich von den so mächtig packenden Gefühlsschauern nicht loszureißen vermochte. Sie war unermüdlich in Fragen nach den Ursachen der Naturerscheinung und ihren voraussichtlichen Wirkungen. Norton setzte ihr alles, so gut er konnte, auseinander und suchte ihr die allereinfachsten Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung begreiflich zu machen. Aber es gelang ihm nicht recht; er bemerkte bald, daß Akrivia mit einigem Naserümpfen die Auseinandersetzung der Ursachen entgegennahm, die in einem gar zu elenden Mißverhältnisse zu der Großartigkeit der Erscheinung standen, die viel zu geringfügig waren, um den ungeheuren Eindrücken zu entsprechen, von denen ihre Seele erfüllt war. Er fand ohne große Mühe heraus, daß sie seinen Reden lieber gelauscht hätte, wenn er ihr von bösen Riesen erzählt hätte, die unter den Wassern begraben lägen, um schwere Schuld zu büßen, und nun ihre Verzweiflung aushauchten, oder von Göttern, die dort an derArbeit seien, umdieWelt in Erstaunen zuversetzen13) . Wahrscheinlich hätte sie als gute Christin es noch lieber gesehen, wenn all diese Herrlichkeit der Macht des heiligen Georg oder des heiligen Dimitri ihren Ursprung verdankte. Jedenfalls war das notwendige Ergebnis dieses Mißklangs zwischen ihren Empfindungen und seinen Auslegungen dies, daß die schöne Schwärmerin die letzteren vergaß, sobald sie sie gehört hatte, und sich für ihren Privatgebrauch im Grund ihrer Seele eine unbestimmte, dunkle, aber sehr passende und sehr poetische Idee von einem Vulkan bildete. Norton war in Wahrheit entzückt zu sehen, daß sie sich treu blieb. Die folgerechten Charaktere lieben ihresgleichen, und eine völlige Verkehrtheit verursacht ihnen weniger Pein, als Mangel an Konsequenz.

Man schlief wenig in dieser Nacht, und am folgenden Tage beim Morgengrauen ging die Korvette bei Santorin vor Anker, und zwar gegenüber dem steilen Felsengestade, das von der Stadt Thera gekrönt wird. Santorin ist nichts andres als ein Teil von dem eingesunkenen Rande eines alten Kraters. Es ist ein von Lücken unterbrochener Halbkreis, der sich unvermittelt aus dem Schoße der Wellen erhebt und sich nach Osten und Süden in eine leichtgeneigte Ebene fortsetzt, die alsbald die Außenküste der Insel erreicht. Ehedem, in vorgeschichtlichen Zeiten, bildete sie den Gipfel des nun gesunkenen Berges. Das Innere des alten Kraterschlundes ist vollständig von den Wogen überflutet und ist so tief, daß unmittelbar am Rande der Innenseite das Lot sechzig, siebzig, ja achtzig Faden Tiefe findet. Nur einige hundert Meter davon hat sich eine Felsspitze gehalten; das ist der einzige Punkt, wo Schiffe ankern können. Gegenüber in einiger Entfernung haben vulkanische Ausbrüche, sei es vor oder nach Christus, allmählich eine Reihe von kleinen Inselchen14)  geschaffen, in deren Mitte sich ein Vulkan erhebt. Dieser war bereits seit mehreren Jahrhunderten erloschen, als plötzlich die neueste Erschütterung die Gestaltung dieses unsichern Bodens von neuem umwühlte und umformte. So ist im allgemeinen das Bild der Reede von Santorin. Bei schlechtem Wetter ist es fast unmöglich, auf der Insel selbst zu landen; denn die Bote würden ohne Gnade gegen den Felsen geschmettert werden.

An diesem Tage gab es zum Glück solche Gefahren nicht; die Barke des Kommandanden der Aurora legte ohne Schwierigkeit an dem schmalen Gestell an, das als Landungsbrücke diente. Man nahm Pferde, um auf die Höhe hinaufzureiten, und verfolgte einen Weg, der sich in vielfältigen Windungen an die Felsen schmiegte. Diese sind keineswegs festgefügt, sondern lassen häufig Steinlawinen niedergehen. Doch klomm man glücklich in mindestens halbstündigem Aufstieg zu der Stadt Thera auf. Moncade hatte da ebenso wie sein Freund einige Verwandte zu besuchen. Santorin bildete nämlich ehemals einen Teil des Herzogtums der Zykladen und zählt wie Naxos einige Familien fränkischer Abkunft. Aber das Schicksal hat dieses Gebiet, das berühmte Weinberge besitzt, günstiger behandelt als seinen alten Vorort. Auf Santorin ist man reich, man hat vielfache Verbindungen mit Syra, wenn nicht gar mit Athen; und der ständige Handel mit Konstantinopel und selbst mit Odessa, wohin fast der ganze Wein des Landes verkauft wird, bringen die Bevölkerung den Gewohnheiten der übrigen Welt näher. Man darf freilich nicht allzuviel in diesem Punkt erwarten.

Die Häuser gleichen denen von Naxos. Sie sind ebenso gebaut und dienen denselben Bedürfnissen. Es sind immer dieselben großen gewölbten Säle nebst einem oder zwei kleinen Zimmerchen und die nämlichen Vorkehrungen gegen einen plötzlichen Überfall der Seeräuber. Man lebt auch ähnlich zusammen auf einer Straße, die nichts weiter ist, als ein großer gemeinsamer Hof. Die Reisenden wurden mit der liebenswürdigen und herzlichen Gastlichkeit aufgenommen, die überall auf den griechischen Inseln die Regel ist. Sie mußten den Wein kosten und bewundern, die Geldquelle des Landes. Sie mußten die Klagen anhören über den Schaden, den der Qualm des Vulkans den Weinpflanzungen brächte, und die Gefahren, mit denen er die Gesundheit der Einwohner bedrohte. Er hatte nämlich mancherlei Augenkrankheiten hervorgerufen, indem er die Luft mit einem feinen, unmerklichen Staube erfüllte, einer Mischung von Bimstein und Schwefel. Sie mußten auch in die Klage über das Lästige der Winde einstimmen, der wilden Zwingherren dieser Höhe, die ihrer ganzen Wut preisgegeben ist. Als alle diese verschiedenen Pflichten erfüllt waren, als man auch die Verwandten, Seitenverwandten und Freunde, die sich einfanden, begrüßt hatte, beeilte man sich wieder hinabzusteigen, um mit den Booten nach der andern Seite der Reede zu fahren, dem wichtigsten Punkte, den es zu besuchen galt, und vor allem dem, der das meiste Vergnügen verhieß.

Alles zeigte sich alsbald neu, eigenartig und anziehend auf dieser Fahrt. Das Meer war vollkommen gelb, und zwar goldgelb, führte Massen von Bimstein auf seiner Oberfläche; in der ersten Zeit des Ausbruchs hatte man dort auch eine Unmenge von toten Fischen schwimmen sehen. Die Reste der kleinen Gebäude, die im Sommer als Badehäuschen dienten, waren nachgerade von den Wellen unterwühlt oder unter den vulkanischen Stoffen begraben; eine Landungsmauer war kurz vorher fertiggestellt, jedoch war vorauszusehen, daß sie bald wieder im Meere verschwinden werde; endlich waren schwarze Schlacken, von denen ein schwefliger Dampf aufstieg, in fortwährender Bewegung begriffen. Infolge eines Drucks von unten hoben sie sich bald mit ansteigender Bewegung steilrecht in die Höhe, bald stürzten sie schlecht gestützt wieder in sich zusammen, rollten ins Meer und verbreiterten so den Untergrund der bildenden Insel, die eines Tages sehr bedeutend werden kann, wenn sie nicht einmal unversehens wieder verschwindet. Alles dies war schwarz wie Tinte, qualmig und heiß, so daß man die Hand lange daran halten konnte. Ringsum kochte das Wasser; wenn man hineingefallen wäre, wäre man darin gesotten.

Auf den Feuerkegel selbst zu steigen war ein Ding der Unmöglichkeit. Denn wenn schon sein Fuß aus glühender Asche bestand, so flossen vollends von oben auf allen Seiten Feuerbäche herab und ließen das Unternehmen als einen Wahnsinn erscheinen. Aber es gab einen Weg, das Ungetüm nahe genug zu betrachten, indem man bis auf die Höhe des alten Kraters stieg, der ihm gegenüber lag. Dies schlug Norton sogleich den Männern vor. Akrivia jedoch fühlte sich so hochgemut, daß sogar ihre gewohnte Lässigkeit keinen Einspruch erhob; sie bat vielmehr ihren Vater und ihren Paten um die Erlaubnis zum Mitgehen. Es machten sich also alle zusammen auf den Weg. Akrivia stützte sich an den schwierigen Wegstellen auf die beiden ihr von Natur am nächsten stehenden alten Führer, indem sie zuweilen auch die Hilfe Nortons annahm, die dieser, unausgesetzt an ihrer Seite, zu leisten freudig bereit war. Einige Male schenkte sie sogar, wie in Gedanken, dem Kadetten Charles Scott diese Gunst, der die süße Wonne bis auf den Grund seiner Seele genoß. Dieser Anstieg ist nicht eigentlich mühsam zu nennen, aber er ist doch ermüdend, weil man bis zu zwei Dritteln der Höhe in feiner, beweglicher Asche marschiert, in die der Fuß tief einsinkt. Der Abhang ist mit einigen buschigen Baumgruppen besetzt, in denen man einen Anhalt findet, wenn man etwa ins Gleiten kommen sollte, und man würde allerdings gut tun, von dieser Schutzvorrichtung Gebrauch zu machen. Denn der Berg fällt, gerade wie das Felsgestade von Thera, unmittelbar ins tiefe Meer ab; und außerdem vergesse man nicht, daß an dieser Stelle das Meer kocht.

Wenn man den Aschengürtel überwunden hat, so muß man zunächst über flache Steine schreiten, sodann sich zwischen spitzen Klippen hindurchwinden; nun steht man auf einer grauenhaft zerrissenen Hochfläche, voll von Höhlen, Spalten und Löchern, aus denen ehedem die vulkanischen Ergießungen hervorkamen. Hier ist alles verbrannt, geröstet, mit roten oder gelben Flecken übersät, auf hunderterlei Art durcheinandergerüttelt. Die umhergeschleuderten Felsen, einer über den anderen gestürzt, zeigen noch heute die wüsten Reste eines unerhört gewaltsamen Naturauftritts15). Große und kleine Bruchstücke natürlichen Schwefels bedecken den Boden, und wie um zu zeigen, daß noch nicht alles zu Ende sei, daß das, was gewesen, leicht wiederkehren könne, steigt hie und da, hinter einer zu Kalk gebrannten Wand, dräuend und finster eine dichte Rauchsäule empor, deren Wölkchen sich oben in dem Blau des Luftraumes verlieren.

Aber man hatte andre Dinge zu sehen als die Vergangenheit und die Zukunft: die glänzende Gegenwart strahlte lebendig und in wilder Bewegung nur wenige hundert Meter entfernt zur der Hochfläche herüber. Wenn man sich über deren nördlichen Rand beugte, so hing man über einem gewaltigen Tale, das einem Höllenschlunde glich, grau, düster, allenthalben verwüstet, bedeckt von dem unheimlichen Dunkel der breiten Schatten, welche die Rauchwolke auf dem Gipfel des nahen Vulkans über die ganze Umgebung verbreitete. Mit wildem Ungestüm wütete der Feuerberg wider seine eignen Werke. Man sah ihn jede Sekunde bersten und sich zu neuen Feuerströmen öffnen. Der Lärm war so entsetzlich, daß man, um sich verständlich zu machen, einander in die Ohren sprechen oder vielmehr schreien mußte, und wenn gar das Ungeheuer die Stimme seines Gipfels ertönen ließ, war man genötigt zu warten, bis es sein Gebrüll beendigt hatte. Jeden Augenblick entsandte es aufs Geratewohl Ladungen von Bimsteinen, halbverkalkten Felsstücken und harten Kieseln aus der Tiefe seiner Eingeweide, und man mußte sich wohl in acht nehmen, um nicht ein Opfer dieser mörderischen Freigiebigkeit zu werden. Und doch konnte es nichts Überwältigenderes und Majestätischeres geben. Stunden vergingen in bewundernder Betrachtung. Gleichwie ein Träumer, am Meeresgestade sitzend, beharrlich abwartet, wie eine Welle auf die andre folgt, und gar nicht merkt, daß die Zeit vergeht, ebenso konnten hier Akrivia, Norton und die Mehrzahl ihrer Begleiter sich nicht davon losreißen, den gewaltigen Entladungen des Berges zuzuschauen, wie sie ihre ungeheuren Rauchsäulen in die Luft sandten und weithin ihren Geschoßregen sprühen ließen. Jedesmal wenn ein Ausbruch beendigt war, erwarteten sie den nächsten. Es darf indes nicht verschwiegen werden, daß einige von den Offizieren, etwas nüchternere Naturen, schon lange vorher Moncade veranlaßt hatten, mit ihnen hinabzusteigen, und daß man dies Häuflein praktischer Leute später im Schutze eines Gebüsches sitzend wieder traf, so sie das Boot ganz in der Nähe hatten und mit lebhafter Befriedigung Plumkake aßen und Ingwerbier tranken.

Indes alles nimmt ein Ende; man mußte aufbrechen. Norton bedachte mit Wehmut, daß es nur noch wenige Stunden seien, bis man Naxos wiedersähe, bis Akrivia in ihr oleanderumgebenes Schlößchen zurückkehrte und er selbst mit der Aurora davonführe, um weiterzuleben, wie er bis dahin gelebt hatte, freilich mit einer Erinnerung im Herzen, die ihm alles verbittern mußte, weil sie ihm noch mehr als vorher die widerwärtigen Seiten seines Daseins fühlbar machte. Es war ihm gelungen, indem er seine Eindrücke in Antiparos überdachte und die wachsende Zutraulichkeit Akrivias erwog, noch mehr Gründe zu der Annahme zu finden, daß er von ihr, wenn nicht geliebt, so doch wenigstens beachtet werde. Norton war kein eitler Geck und gab sich nicht leicht solchen Vorspiegelungen der Eigenliebe hin. Er glaubte sich vielmehr begnadet, wenn er liebte; indem er nun das, was nach seiner Meinung in der Seele des jungen Mädchens vorging, mit ihrem Charakter verglich, wie er ihn sich dachte, von dem er nicht weniger eingenommen war wie von ihrer Schönheit, faßte er nach reiflicher Überlegung den Entschluß, eine Frage an sie zu tun. Diese Frage trug im höchsten Grade das Gepräge des Romanhaften, um so mehr als ihr eine längere Überlegung als erschwerender Umstand vorausgegangen war. Nur ein Engländer ist zu derartigem fähig, und um die Handlung Nortons richtig einzuschätzen, muß man sich klar machen, daß er nur den Geschmack vieler seiner Landsleute in die Wirklichkeit zu übersetzen trachtete.

In den entferntesten Ländern des Erdballs und vorzugsweise an ihren abgelegensten Punkten ist man ziemlich sicher einen Engländer vorzufinden, der sich mutig in der vollständigsten Einsamkeit niedergelassen hat, welche ihm die örtlichen Verhältnisse irgend zu entdecken erlaubt haben. Selten ist dieser Einsame ein Mensch gewöhnlichen Schlages; meist ist er eine Persönlichkeit aus der vornehmen Welt, von guter Herkunft und feiner Verwandtschaft, der großes Vermögen besessen hat und häufig noch besitzt; in der Regel war er früher Offizier, Rechtsgelehrter oder Seemann. Stets aber ist er ein gebildeter Mann mit feinen Lebensgewohnheiten, die sich freilich aufs äußerste zu einer fast barbarischen Einfachheit haben einschränken müssen, aber nie gemein werden. Wenn ich meine Erinnerungen zusammenstellen wollte, so könnte ich eine lange Liste von solchen Ausreißern aus der menschlichen Gesellschaft vorlegen. Einen solchen habe ich gekannt am äußersten Ende von Neuschottland in den Wäldern bei Sydney, einen andern in den Bergen von Mingrelien, nicht weit von Kutais, einen dritten in der völlig wilden Gegend im Nordosten Griechenlands, nahe der türkischen Grenze; ich könnte noch viele nennen in Ländern, die weniger abgelegen, aber ganz ebenso verlassen sind und namentlich in ihrer Kultur ebenso tief unter der englischen Gesellschaft stehen. Aber ich schließe, indem ich wiederhole, daß die Neigung für die Selbstverbannung und die Entsagung bei dieser Rasse mit starker Persönlichkeit so ausgeprägt ist, daß sie sogar auf die Frauen sich erstreckt. Lady Esther Stanhope16)  und Zanthe sind keineswegs die einzigen gewesen, die dem unausgesetzten Aufenthalt in den Salons einen Wohnsitz wie die arabische Wüste oder Damaskus vorzogen.

Norton war nun im Vollbesitz seiner englischen Eigenheiten, und da er Akrivia in einem großen Sessel auf dem Verdeck sitzen sah, nahm er in einem Augenblicke des Alleinseins neben ihr Platz und sagte ernst zu ihr: "Mein Fräulein, ich liebe Sie, und ich möchte gern von Ihnen hören,ob ich hoffen darf, daß Sie meine Gefühle erwidern."

Akrivia sah ihn mit reizender Lieblichkeit an und antwortete: "Ja, Herr Norton, gewiß, ich liebe Sie sehr."

Norton mißtraute der fabelhaften Leichtigkeit dieser Erklärung ungemein; denn da sie so rasch und ohne die mindeste Verlegenheit abgegeben wurde, schien sie ihm durchaus nicht alles zu enthalten, was er wünschte. Er drang deshalb mit scheinbar überzeugter Miene weiter in sie: "Ich danke Ihnen unendlich, mein Fräulein; ich möchte jedoch wissen, ob Sie mich auch genug lieben, um mir zu gestatten, daß ich um Ihre Hand bitte."

Und da nun Akrivia eine Bewegung machte, um ihm lächelnd die Hand entgegenzustrecken, sah er klar, daß sie noch nichts begriffen hatte, und fügte hinzu: "Das heißt, daß ich Sie bitte, meine Frau zu werden."

"Nein!" antwortete Akrivia schroff. Dann übergoß ihr Gesicht tiefes Rot, die Tränen traten ihr in die Augen, sie erhob sich und stieg in ihr Zimmer hinab. Norton stand da, die Trümmer seines Kartenhauses betrachtend.

Der Schlag war hart, und der wackre Kapitän war darauf nicht gefaßt. Indes große Charaktere erscheinen gerade bei gefahrvollen Wendepunkten des Schicksals im hellsten Lichte. Mit ruhigem Ernst faßte er seine Lage ins Auge.

"Wenn sie mich liebte," sagte er sich, "dann wäre sie nicht das, was ich in ihr liebe, die Tochter des Altertums und des einfachen Naturlebens, die Stürme des Gefühls nicht kennt. Akrivia darf nichts lieben als ihre Eltern, ihren Gatten und ihre Kinder. Darüber hinaus existiert die Welt nicht für sie. Ich habe mich auf die verwünschten Pfade meiner modernen Bildung verirrt. Kehren wir zur Wahrheit zurück! Der soeben fehlgeschlagene Versuch darf mich in meinem Entschluß nicht wankend machen, im Gegenteil, er muß mich darin bestärken. Denn ich sehe nun mehr als je, wie rein und unverfälscht der Schatz ist, den ich entdeckt habe. Ich will ja gar nicht die Erregungen einer Zärtlichkeit nacheuropäischer Weise: ich suche die Grundlagen eines allerpersönlichsten Eigenlebens. Mein Fehler wäre nicht wieder gut zu machen, wenn ich nicht sofort in den rechten Weg einlenkte."

Da er auf dem Verdeck Phrangopulo und Moncade erblickte, die sich in der Kunst, eine Kanone zu richten, unterweisen ließen, trat er zu ihnen und bat sie um einen Augenblick Gehör. Sein Gesicht war ernst, und die Mienen seiner beiden Freunde nahmen ohne Verzug denselben Ausdruck an.

"Meine Herren," sagt er, "ich habe die Absicht, in kürzester Frist den Seedienst zu verlassen. Naxos gefällt mir, und ich werde mich dort ansiedeln. Wahrscheinlich werde ich mich mit irgendeinem landwirtschaftlichen Unternehmen befassen; jedenfalls werde ich dauernd dort wohnen. Da es nicht gut ist, daß der Mensch allein sei, wünsche ich mich zu verheiraten; nun fürchte ich, daß eine fremde Frau sich wahrscheinlich nicht leicht an mein neues Vaterland gewöhnt; ich ziehe also vor, eine Tochter des Landes heimzuführen, und wenn Sie nichts dawider haben, so würde ich Ihnen überaus verpflichtet sein, wenn Sie die Hand Ihrer Fräulein Tochter und Patin in die meine legen wollten."

Diese kleine Rede wurde mit dem kühlsten und sachlichsten Tone vorgetragen. Moncade machte große Augen. Phrangopulo richtete sich mit würdevoller Miene auf, und umgekehrt, wie es gewöhnlich geschah, ließ er diesmal nicht seinem Freunde das Wort, sondern antwortete dem Kommandanten selbst folgendermaßen: "Herr Kommandant, ich bin durch Ihren Vorschlag sehr geehrt und danke Ihnen dafür im Namen meiner Familie. Allein ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß meine Tochter keine Mitgift zu erwarten hat und daß gleichwohl unsre Geburt uns gewisse Pflichten und große Vorsicht in der Wahl unsrer Familienverbindungen auferlegt. Ich zweifle nicht an Ihrem persönlichen Wert und habe nicht das geringste Bedenken inbetreff Ihrer Ehrenhaftigkeit, das können Sie mir glauben; aber Ihre ehrenwerte Familie ist mir noch gänzlich unbekannt, und es würde mir schmerzlich sein, wenn aus deren früherer Stellung sich Hindernisse für Ihren Plan erhöben, die ich beim besten Willen nicht überwinden könnte. Mit einem Worte, Herr Kommandant, wir sind Edelleute, und meine Tochter soll nur einem Manne von unserem Range als Gattin folgen."

Die Zustimmung Nortons zu dieser Erklärung ließ keine Minute auf sich warten. Er war äußerst zufrieden mit der Wendung, die seine Unterhandlungen nahmen. Seine zukünftige Ehe - wofern wenigstens alles glückte - wurde, ob auch mit der heißesten Liebe ersehnt, doch mit der Steifheit, Förmlichkeit und Unterdrückung jeder Gefühlsäußerung von ihm behandelt, welche sicherlich die ersten Erfordernisse vornehmen Anstandes sind und seine Hauptstärke ausmachen.

"Ich bin bereit, Herr Phrangopulo," erwiderte er mit geschäftsmäßiger Trockenheit, "Ihnen über meine Familie und mich selbst die Ausweise vorzulegen, die Sie mit vollem Rechte von mir verlangen. Und wenn Sie gütigst einen Blick auf meine Beweisstücke werfen und dann mit sich zu Rate gehen wollen, so würde ich glücklich sein, Ihre Antwort noch heute abend zu erhalten. Denn wir sind im Begriff an Naxos zu landen, das dort schon sichtbar ist, und es scheint mir an der Zeit, Ihren endgültigen Beschluß zu erfahren."

Nach diesen Worten gab der Kommandant eine kurze Auseinandersetzung über seine gesellschaftliche Stellung und belegte sie mit einem Absatz aus der 'Peerage and baronetage of the United Kingdom of Great-Britain and Ireland' ; dann brachte er die 'Navy List' herbei, in der sein Name prangte mit der Bezeichnung seines Grades und des von ihm befehligten Schiffes, auf dem die Unterredung stattfand. Er hatte sehr wohl bemerkt, daß man kein Wort von seinem Vermögen gesagt hatte, er wollte auch überdiesen Punkt Aufklärung geben, aber man schien wenig Wert darauf zu legen, und die beiden Richter seines Geschickes zogen sich zur Beratung zurück. Während dieser Zeit wandelte er, die Hände auf dem Rücken, auf dem Verdeck hin und her. Er brauchte nicht länger als eine halbe Stunde zu warten. Darauf erschien Moncade, um ihm anzuzeigen, daß ihm die Hand Akrivias gewährt sei und daß Phrangopulo in die Kabine hinabgestiegen sei, um seine Tochter von der Entscheidung, die über sie getroffen worden, in Kenntnis zu setzen. Hierüber verging noch einige Zeit. Dann kam Moncade, der inzwischen hinuntergegangen war, um zu sehen, wie die Sache stände, herauf, und bat Norton zu kommen und sich seines Glükkes zu freuen. Er war erhört, entzückende Botschaft! Doch er nahm sie mit der würdigsten Gelassenheit entgegen.

Als er Akrivien gegenübertrat, sah er Tränen auf ihren Wangen. Er drückte ihr die Hand: "Sie lieben mich wohl nicht?"

"O, nicht doch!" sagte sie kopfschüttelnd; "ich hätte nur lieber gesehen, daß du ein Grieche wärst."

Was hierauf geschah, braucht nicht erzählt zu werden. Die Hochzeit wurde auf wenige Monate später festgesetzt. Norton glaubte, soviel Zeit zu bedürfen, um sein Kommando abzugeben, seinen Abschied zu nehmen und nach Naxos zurückzukehren. Doch alle diese Geschäfte wurden noch schneller erledigt, als er gehofft hatte.

Er war etwa acht Tage verheiratet, als er den Lärm eines lebhaften Zanks zwischen Frau Triantaphyllon und Akrivien vernahm. Diese behauptete nämlich gegenüber ihrer Schwägerin, daß die Engländer ebenso gute Seeleute wie die Griechen wären, und da Gründe zum Beweise dieser Behauptung ihr nicht zu Gebote standen, so wiederholte sie unausgesetzt mit Beharrlichkeit: "Ich bin eine Engländerin", und legte einen ungeheuren Stolz in diese Worte.

"Teure Tochter des Priamus!" sagte Norton für sich, "sie beginnt zu begreifen, daß sie einen Gatten hat."

Akrivia lernte ihre neue Sprache sehr schnell; sie lernte überhaupt noch viele Dinge, sie las auch ein wenig, aber sie betrieb alles dies nicht eben mit Leidenschaft. Ihr Gemahl machte mit ihr eine Reise nach England; sie wurde wohl aufgenommen, mit allen Ehren, die man einer schönen Merkwürdigkeit schuldet. Sie erlebte sogar in einem Schlosse von Yorkshire, wohin sie eingeladen war, eine Art Abenteuer, das wohl geeignet war, sie über ihren vollen Wert aufzuklären. Ein reizender junger Mann gestand ihr die wirkliche Wahrheit über sich selbst; er verbrachte nämlich die Nächte damit, das traurige Schicksal einer so hervorragenden Frau zu beweinen, die durch das Schicksal, das ja stets roh und blind ist, an einem für ihre Vorzüge ganz verständnislosen Mann gekettet sei. Nun war es ja umgekehrt keineswegs sicher, daß Akrivia Norton vollkommen verstand, aber es war jedenfalls unbestreitbar, daß sie den reizenden jungen Menschen noch viel weniger verstand; sie langweilte sich überhaupt dermaßen in England und ließ dies so deutlich merken, daß Henry, der selbst nicht viel Vergnügen in seiner Heimat fand, sie geradewegs nach Naxos zurückführte.

Heute hat sie zwei entzückende Kinder, die unter den Orangen spielen; sie verliert sie nicht aus den Augen und hält es für so gewiß wie das Evangelium, daß ihrem Gatten in der ganzen Christenheit keiner das Wasser reicht.

Pâtissia, im August 1867.

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Anmerkungen (vom Übersetzer F. Hahne)

1) Naxos: Die größte der Zykladen war im Altertum berühmt als die sagenumwobene Stätte der Hochzeit des Dionysos und der Ariadne, als Sitz des Tyrannen Lygdamis, des Pisistratidenfreundes, als Veranlasserin des ionischen Aufstandes - denn um den Gefahren zu entgehen, die ihm wegen einer mißglückten persisch-ionischen Intervention zugunsten der vertriebenen naxischen Adligen drohten, ließ Anaxagoras Ionien aufstehen - endlich als Sitz der kräftigsten Opposition gegen die Tyrannei der athenischen Vormacht. Hierbei unterlag die Insel allerdings im blutigen Kampfe 471, während dessen der wegen Landesverrats flüchtige Themistokles fast zu seinem Unheil auf der Insel gelandet wäre, und wurde zur Bedeutungslosigkeit einer attischen Kleruchie herabgedrückt. - Im Mittelalter nach dem vierten Kreuzzuge wurde Naxos Vorort des von dem kühnen Venezianer Marco Sanudo 1207 gegründeten Herzogtums der Zykladen. Gobineau irrt, wenn er das Herzogtum der Zykladen ein französisches nennt. Er ist dabei beeinflußt von den französischen Geschichtsschreibern jener Epoche: Ducange, Histoire de Constantinople sous les empereurs francais 1659, und namentlich Buchon, Recherches et matériaux pour servir 2a une histoire de la domination francaise en Morée 1840, welche beide in patriotischem Eifer das Inselreich als Anhängsel der festländischen französischen Reiche behandeln und die venezianischen und genuesischen Geschlechter kaum berühren. (s. C. Hopf in Ersch und Grubers Enzyklopädie I, 85, S. 202/3.) Es ist wahrscheinlich, daß fränkische Ritter an jener Eroberung beteiligt gewesen sind, der weitaus überwiegende Anteil aber fällt den Italienern zu. Das Verzeichnis der Beherrscher der einzelnen Inseln des Dodekanesos weist nur italienische Namen auf (s. Ersch und Gruber I, 85, S. 223.) 21 Herzöge, zuerst aus dem Hause Sanudo, seit 1330 aus dem Hause Crispi sah das Inselreich, bis es 1566 den Türken anheimfiel. Diesen blieb es bis zur Befreiung Griechenlands 1830. Über die Geschichte und den Zustand der Insel in neuerer Zeit vgl. Ernst Curtius, Naxos 1840 (Altertum und Gegenwart III, 254-282), Erinnerungen an Em. Geibel (ebenda 216-221), Briefe S. 202-212.

2) Inselchen bei Naxos: Palatia genannt, weil das Volk die Trümmer darauf für Ruinen eines Königspalastes hält (Curtius Briefe, 202). Übrigens spricht Curtius von einem Bacchustempel, wohl ebenfalls nur eine Annahme.

3) Beinkleider à la cosaque: Die sogenannte russische Hose wurde 1817 viel getragen. Sie war überaus weit und lang, so daßsie sich über die Stiefel legte, hatte breite Streifen an der Seite und als Abschlußunten Bandschleifen. (Br. Köhler, Allg. Trachtenkunde VI, 194. Universal-Bibliothek Nr. 4203/4.)

4) Georg Brummel: Er war im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine europäische Berühmtheit als Geck, besonders wegen der kunstvollen Schürzung seiner Halsbinden. (Hottenroth, Hdbuch d. deutsch. Trachten S. 859.)

5) Admiral Codrington: (1770-1851) wurde 1825 mit einer kleinen englischen Flotte nach dem östlichen Mittelmeere geschickt, um Ibrahim Paschas Aktionen gegen das im Freiheitskampf stehende Griechenland zu beobachten. Als Befehlshaber einer russisch-französisch-englischen Flotte vernichtete er die türkisch-ägyptische Flotte bei Navarin 1827.

6) Wellingtons Tod: erfolgte 1852, die Zeit der Handlung ist 1866.

7) Die vier Bücher des Konfuzius: Gob. meint offenbar die vier sogenannten klassischen Bücher der chinesischen Literatur (sze-shu), die neben den fünf kanonischen Büchern (ngù king) die Grundlagen chinesischer Bildung ausmachen. Sie stammen nicht von Konfuzius selbst, sondern sind teils Sammlungen seiner Aussprüche, teils Ausführungen und Fortbildungen seiner Lehre durch Nachkommen und Schüler. Konfuzius hat also zu den nach ihm benannten Büchern dasselbe Verhältnis wie Sokrates zu den Platonischen Dialogen, in denen er die Hauptperson ist, und Christus zu dem Neuen Testament, das seinen Namen trägt. Sie alle gaben als Schöpfer den Inhalt, aber nicht die Form.

8) Jüdischer Arzt: Josef Nasi, Resident von 1566-1579.

9) Truhe im venezianischen Geschmack: Bei dem Einfluß, den die Venezianer von Anfang an auf die Lebensgestaltung des neuzeitlichen Naxos hatten, kann es nicht wundernehmen, hier Möbel im venezianischen Geschmack zu finden; die ganze Einrichtung des Hauptraumes, die Gobineau nicht ohne Grund etwas spöttisch behandelt, erinnert an venezianische Art. Vgl. W. Bode, Die italienischen Hausmöbel der Renaissance. Leipzig 1904, Abschn. II: "Einfachheit und Großräumigkeit waren auch bei der Möblierung des Hauses maßgebend." "Keine Einbauten, keine großen Möbel oder ganze Etablissements hinderten den Blick oder die freie Bewegung namentlich im großen Hauptsaal; die Möbel waren vielmehr fast ganz auf die Wände beschränkt." "Wie im Florentiner Haus, so ist auch im venezianischen das wichtigste Möbel die Truhe. In der Tat vertrat die Truhe in Venedig nicht nur Schrank und Kommode, sondern teilweise auch Stuhl und Tisch." Der venezianische Geschmack bestand bei den Truhen in künstlerischer Bemalung oder in eingelegter Arbeit, war also mehr malerisch als bildhauerisch. "Geschnitzte Truhen waren in Venedig bis in den Anfang des Cinquecento anscheinend selten." Sie waren mit zierlichen, flachgehaltenen Kandelabern und Blattornamenten verziert, denen die jüngern Lombardi die zierlichste Ausgestaltung zu geben wußten. Mit der Übersiedelung Jacopo Sansovinos nach Venedig 1527, nach dem Sacco di Roma, kam die kräftig herausarbeitende, michelangeleske Schnitzkunst der Florentiner auch hier zur Herrschaft.

10) Halbvers des Vergil: Aeneis I, 405. "Et vera incessu patuit dea."

11) Die Grotte von Antiparos wird auch von L. Roß in seinen "Reisen auf den griechischen Inseln" erwähnt: "Oliaros (=Antiparos) scheint nur in seiner Südhälfte, wo die berühmte Grotte ist, ansehnliche Berge zu haben." (I, Brief 6, S. 53.)

12) Santorin, das alte Thera, gehört dem Zuge vulkanischer Herde an, der Griechenland quer durchschneidet. Der Ausbruch, der hier so meisterhaft geschildert wird, währte von Ende Januar 1866 bis Ende Oktober 1870.

13) Riesen und Götter im Vulkan: Beide dichterische Vorstellungen finden wir in der griechischen Sage an den Ätna geheftet. Typhon ist das unter ihm in qualvoller Fesselung sich windende Ungeheuer, Hephaistos der in ihm arbeitende Gott, der durch seine Wunderwerke die Welt in Erstaunen setzt. S. Äschylus, Prometheus, V. 363 ff. (Verdeutscht von Hans von Wolzogen. Univ.-Bibl. Nr. 988):

Und nun, ein machtlos hingestreckt Gebild,
Liegt er am Strand der schmalen Meeresenge
Tief in des Ätna Wurzeln eingesenkt,
Und oben auf dem Gipfel schwingt Hephaistos
Den Schmiedehammer .....

Übrigens ist Typhoeus, der vom Tartaros gezeugte Sohn der Gäa, augenscheinlich die Verkörperung eines Vulkans - die vulkanischen Herde waren vordem im Mittelmeer nicht auf den Ätna und den im Altertum erloschenen Vesuv beschränkt -,vielleicht sogar des Vulkans vonThera selbst. Man lese nur seine Schilderung in Hesiods Theogonie S. 820 ff. und vergleiche sie mit dem, was Gobineau über das Arbeiten des Feuerberges von Santorin berichtet. Bei Hesiod heißt es: "Auf seinen (des Typhoeus) Schultern saßen hundert schreckliche Drachenköpfe, leckend mit schwärzlichen Zungen, und Feuer glühte aus ihren Augen unter den Brauen hervor. Alle diese furchtbaren Köpfe aber hatten eine Stimme und ließen allerlei unsagbares Getön erschallen. Zuweilen redeten sie die Sprache der Götter, dann jedoch wieder brüllten sie wie ein kraftstrotzender, starkstimmiger Stier, bald auch wie ein Leu voll ruchlosen Mutes; nicht selten klang es wie Hundegekläff, absonderlich zu hören, und ein andermal pfiff es laut, und weithin ertönten davon die Berge."

14) Reihe von Inselchen: Die alte Brandinsel Paläa Kammeni (= kekaumenh) 197 v. Chr., im Altertum Hiera, auch Automate genannt, die kleine Brandinsel Mikri Kammeni nördlich davon 1570 n. Chr. und Nea oder Megali Kammeni zwischen beiden 1707-1711. Bei letzterer war der neue Ausbruch. Siehe Roß' vortreffliche chronologische Untersuchungen,"Reisen auf den griech. Inseln." I, Brief 9.

15) Gewaltsamer Naturauftritt: vgl. Roß a.a.O. S. 100 "Der ganze übrige Teil der Insel ist eine Aufhäufung von glänzend schwarzen Lava- und Obsidianblöcken, die wild durcheinander liegen, als ob der Teufel sie zusammengewürfelt hätte."

16) Lady Esther Stanhope, 1776-1839, eine Nichte William Pitts, die als Geheimsekretärin ihres Oheims eine bedeutende Rolle in London gespielt hatte, zog sich nach dessen Tode 1806 aus der Gesellschaft zurück und nahm nach mehrjährigen Reisen ihren Wohnsitz in Syrien an einem verlassenen Punkte des Libanon nahe bei Sidon. Sie wußte sich dort durch ihre Freigebigkeit und Wohltätigkeit derartigen Einfluß zu verschaffen, daß sie gegen Ibrahim Pascha 1831 einen erfolgreichen Aufstand der Drusen zustande brachte. Es ist nicht wahrscheinlich, daß wir es in ihr mit einer Entsagenden zu tun haben, vielmehr mit einer starken Persönlichkeit von exzentrischem Freiheitsdrang und Machtwillen.

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